Über die medizinischen Erfahrungen im Bereich Hörimplantation in Libyen

Dies ist nun schon der 31. Bericht über meine internationalen Aktivitäten und nach zahlreichen Ländern rund um den Globus erzähle ich von Libyen.

Wolf-Dieter Baumgartner

Dieser Reisebericht ist etwas speziell. Er handelt von einer Zeit, die es dort nicht mehr gibt und von einem untergegangenen Land. Trotzdem möchte ich Ihnen diesen nicht vorenthalten, da ich doch etliche Male dort war und zumindest in diesem Zeitraum etwas bewirken konnte. Wir sprechen von einem Libyen unter dem Diktator Muammar al Gaddafi, vor dem Jahre 2011. Also die Zeit vor dem Bürgerkrieg, der 2011 und auch mit Gaddafis Sturz und Tod in Wahrheit bis heute nicht beendet ist. Details und aktuelle Analysen zu Libyen sind vom ausgewiesenen Libyenexperten Wolfgang Pusztai zu erhalten – für Interessierte sehr spannend nachzulesen.

Wirtschaftliche Beziehungen

Libyen ist 20-mal so groß wie Österreich und hat 7 Millionen Einwohner, davon 3 Millionen in der Hauptstadt Tripolis. Das Land ist bis auf wenige Mittelmeerküstenstriche Wüste; richtige Wüste, Sand, Dünen, sonst nichts; reich an höchstqualitativem Erdöl und Gas und damit von geopolitischer Bedeutung, auch für Österreich. Vor dem Bürgerkrieg waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Libyen und Österreich herausragend gut. Die ÖMV förderte Öl und Gas, die VAMED baute Krankenhäuser, das Lybische Geld war in Österreich angelegt. Gaddafis Privatjet parkte in Wien und Klagenfurt, ein Sohn und Teile der Familie lebten in Wien.

Das diktatorische Libyen war auf die Familie des Oberst Gaddafi zentriert, die seit 1969 nach dem Sturz des Königs herrschte. Religion spielte bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Schulen, Universitäten, Ausbildung, Infrastruktur und Gleichberechtigung der Frauen waren für ganz Afrika, insbesondere für die arabische Welt, herausragend. Das ausstattungsmäßig beste Spital Afrikas war die Universitätsklinik Tripolis, eben von der Voest Alpine Medizintechnik betreut.

Medizinische Verbindungen

Wolf-Dieter Baumgartner mit einem libyschen HNO-Kollegen ©privat

Junge Ärzte – nur Männer – wurden zum Training und zur Facharztausbildung nach Deutschland und Österreich geschickt, ebenso viele PatientInnen, die hier die Privatkliniken füllten. Österreich und Deutschland als Ausbildungsstätten waren bewusst gewählt, da wir keine beziehungsweise nur minimale koloniale Vergangenheit haben und diese Libyen nie tangierte; im Gegensatz zu Italien oder Frankreich oder den mit Libyen verfeindeten USA und Großbritannien (Stichwort Pan Am Sprengung Lockerbie).

So absolvierte zum Beispiel Dr. Anwar Esriti aus Tripolis in Mainz seine HNO-Facharztausbildung, war dann etliche Jahre Oberarzt an der Mainzer Klinik und kehrte dann als Klinikchef an die HNO Univ. Klinik Tripolis zurück. Bis zum Bürgerkrieg war er dann auch Dekan der medizinischen Fakultät Tripolis. Ich lernte ihn in Deutschland und auf Kongressen kennen und so freundeten wir uns an; bis er mich eine Tages fragte, ob ich das OP-Training und insbesondere das Cochlea-Implantat-Programm Libyens unterstützen würde. Ich sagte sofort zu und so begann meine OP-Tätigkeit an der HNO-Univ. Klinik in Tripolis. Vor meinem allerersten Besuch war ich doch skeptisch, ob alles funktionieren würde. Doch dann traute ich meinen Augen nicht. Das gesamte Universitätsspital war von der VAMED von Grund auf renoviert und modernisiert. Sogar der Lift war exakt wie im Wiener AKH, nur besser. Bei den ersten Besuchen operierte ich noch keine Cochlea-Implantate. Ich begann mit endoskopischer Nasen-OP, Schädelbasis, dann klassische Otologie, wie Otosklerose und Cholesteatom. Es war alles da, jedes Endoskop, das die Firma Storz je produzierte, war vorhanden – ein medizintechnisches Schlaraffenland, von Bohrern und Mikroskopen ganz zu schweigen.

In weiterer Folge etablierten wir auch die Cochlea-Implantation bei Kindern und Erwachsenen. In den starken Jahren wurden 200 Cochlea-Implantate und mehr pro Jahr erfolgreich implantiert. Damals war Libyen das medizinische Vorzeigeland für Afrika. Viele Spitäler waren sehr gut, nicht nur die Klinik in Tripolis. Sämtliche Gesundheitsversorgung war für die Bevölkerung gratis! Selbstverständlich auch das Cochlea-Implantat und sämtliche komplexe Operationen und Nachbehandlungen. In den 2000er Jahren war die bilaterale kindliche Cochlea-Implantation eine kostenfreie Leistung des libyschen Gesundheitswesens. Exakt zeitgleich haben da die Engländer noch überlegt, ob es sich überhaupt „auszahlt“, bilateral zu implantieren.

Für mich auffallend war der extrem hohe Anteil an Ärztinnen und Medizinstudentinnen. In Libyen war die Medizin damals mehr in weiblicher Hand. Männer waren eher beim Militär oder in der Öl- oder Gasindustrie. Bis zum Jahr 2011 war also das gesamte libysche Gesundheitswesen mit allen erdenklichen Operationen für die Bevölkerung kostenfrei. Spezielle, in Libyen nicht behandelbare PatientInnen, wurden auf Staatskosten nach Österreich und Deutschland ausgeflogen, zum Beispiel auch nach Wien.

Revolution und Zerfall

Seit der Revolution mit dem Bürgerkrieg ist dies alles vorbei. Libyen als Staat existiert praktisch nicht mehr, nur mehr auf der Landkarte. Das Staatsgebiet ist heute in etwa drei Regionen zerfallen. Erstens der Bereich um Tripolis, wo die sogenannte Regierung sitzt; zweitens Ostlibyen mit der Stadt Bengasi und General Haftar, der die Regierung nicht anerkennt; und drittens die zentralen Wüsten und Beduinengebiete, in denen diverse Warlords lokal herrschen, mit persönlicher anarchischer Pseudogesetzgebung und wechselnden Allianzen.

Vor zwei Jahren wurde die Cochlea-Implantation in Tripolis von den von mir ausgebildeten Kollegen wieder langsam gestartet. Nun sind Operation, Krankenhausaufenthalt und Cochlea-Implantat von den Familien privat zu bezahlen. Wie sich die medizinische und politische Situation weiterentwickeln wird, ist unklar.

Meiner Meinung nach wird der „Staat“ in die Regionen zerfallen und neue Staaten werden wohl nachfolgen. Ein Libyen wie unter dem König oder Gaddafi wird es wohl nicht mehr geben.

Man kann der Bevölkerung nur alles Gute und Durchhaltevermögen wünschen. Ein stabiles Libyen ist im Interesse Europas und Österreichs.

Logo Leben mit hoerverlust.at

Leben mit hoerverlust.at

Alles auf einen Klick! hoerverlust.at bietet Betroffenen und Angehörigen umfassende Informationen und Kontaktmöglichkeiten zu allen Bereichen, die Sie auf dem Weg zum Hören benötigen. Mehr zum informativen Wegbegleiter vom ersten Verdacht bis zur optimalen Versorgung finden Sie hier!

ZENTRUM HÖREN

Beratung, Service & Rehabilitation – für zufriedene Kunden und erfolgreiche Nutzer! Mehr zum umfassenden Angebot und engagierten Team des MED-EL Kundenzentrum finden Sie hier!