Rezepte für ein geglücktes Leben
Ob Lockdown, Kündigung oder Trennung, die eigene Ertaubung oder die eines geliebten Menschen, bis hin zu Krieg oder Gewalt – traumatische Erfahrungen in unterschiedlichem Maß gehören zum menschlichen Dasein. Wie kann trotzdem ein geglücktes Leben gelingen?
Basierend auf einen Vortrag des Philosophen Univ. Prof. DDDr. Clemens Sedmak[1]
„Wie stellen Sie sich Österreich vor im Jahr 2030, 2040, 2050?“, fragt Clemens Sedmak. „Utopisches Denken hat an Reputation verloren, seit Franz Vranitzky, damals österreichischer Bundeskanzler, sagte: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Schade! Denn eigentlich ist das eine gute Frage, in welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben?“, und: „Was heißt das für die Parteienlandschaft, für die Präsenz der Konzerne, was heißt das für den Umgang mit Schule, Regelschulsystem und Ähnlichem?“
Sedmak ist Philosoph, Theologe, Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame im US-amerikanischen Indiana und Gastprofessor an Universitäten in und außerhalb Österreichs. Seit 2021 nimmt er die Stelle des Vizepräsidenten am Internationalen Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen in Salzburg ein. In seinem Vortrag betrachtet er Lebensqualität und geglücktes Leben aus philosophischer Sicht und erklärt, wie geglücktes Leben dann möglich ist, wenn der Lebensweg nicht perfekt verläuft.
„Glück ist ein Gemeinschaftsgut!“ betont Sedmak dabei immer wieder und vergleicht das geglückte Leben mit dem Paradies auf Erden.
„Wir sollten nicht den Ehrgeiz haben, unverwundet durchs Leben zu gehen.“
Der Zweite Weltkrieg war keine glückliche Zeit für die europäische Bevölkerung. Gerade aus dieser Epoche schöpft Sedmak, wenn er auf das Tagebuch von Janusz Korczak verweist. Der Kinderarzt, Pädagoge und Leiter eines Waisenhauses im Warschauer Ghetto beschreibt darin das Gespräch zweier alter Männer. Einer sieht gut aus, ist gesund und glücklich und beschreibt dem anderen, dass er ein immer maßvolles Leben geführt habe und jetzt sei er „gut beisammen“. Der andere – Korczak selbst – sagt, er trinke und rauche zu viel, schlafe zu wenig, sei unruhig und es gehe ihm eigentlich die Luft aus. „Ich habe so gelebt, dass ich mich dabei verbraucht habe“, fasst Sedmak zusammen und fragt: „Willst du möglichst unbeschädigt die Frühpension erreichen oder doch etwas aus deinem Leben machen, auch wenn es mit Kosten verbunden ist?“
Seelische Verwundungen, Traumata, müssen nicht zwangsläufig von Extremsituationen wie Tod, Gewalt oder Verfolgung herrühren – auch ein Autounfall kann traumatisieren, eine eigene Erkrankung oder die eines Angehörigen, Trennung, Angst oder Hilflosigkeit oder auch die Begleitumstände einer Pandemie. „Trauma wird als extremer Druck auf Identität und Integrität definiert, der zu einem Verlust an Lebensverankerung und Lebenssicherheit führt“, so Sedmaks Erklärung, wie sich traumatische Erlebnisse auf Lebensqualität auswirken. „Dem entgegen steht aber die Möglichkeit, trotzdem Ja zum Leben zu sagen – in dem Wissen, dass es ein Fundament gibt, das nicht zerbrechen kann.“
Identität und Glück aufbauen
„Bei einer Studie der Harvard-Business-Review mit einer Gruppe von CEOs haben viele“, statt wie gefordert ihr Leben als Geschichte zu erzählen, „einen tabellarischen Lebenslauf abgeliefert.“ Eine Geschichte zeichne sich aber durch einen Anfang aus, durch manche Höhepunkte, sowie durch gleichbleibende Aspekte, die sich als roter Faden durch die Geschichte ziehen und ihr eine gewisse Kohärenz verleihen. „Das ist bedroht, wenn wir bestimmte Dinge aussparen müssen, weil sie unaussprechlich sind; weil sie zu schlimm sind, um sie in Worte zu fassen.“
Das eigene Leben als Geschichte zu erfahren, ist laut Sedmak einer von vier Zugängen, welche die Philosophie zum Aufbau einer Identität kennt. Andere Zugänge sind die Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Gruppe – zum Beispiel einer Firma, politischen Partei, Religion oder Familie; Anerkennung – wenn ich das tue, was andere von mir erwarten; oder starke Sorge für etwas, das mir wirklich wichtig ist und das ich mit ganzem Herzen anstrebe. Integrität ist nun die Fähigkeit, die Identitäten aus unterschiedlichen Quellen im Selbstbild zu integrieren.
„Es geht nicht darum, unbeschädigt durchs Leben zu gehen. Nur Unmenschen lassen sich durch die Widrigkeiten der Welt nicht beindrucken. Wenn sensible Menschen durch diese Welt gehen, werden sie verwundet. Aber es geht darum, an Identität zu bauen und noch ein gutes Leben zu haben.“
Vom Recht auf Glück im Königreich Bhutan und bei uns
„Schämen Sie sich nicht, dass Sie das ärmste Land der Welt regieren?“, fragte 1972 ein Journalist den König von Bhutan. Der antwortete: „Das Streben nach Bruttonationalglück ist wichtiger als das Bruttonationalprodukt.“ „Da deutet sich an, was ich am Anfang gefragt habe: Überlegen wir uns, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen“, beschreibt Sedmak, wie die Unverschämtheit eines Journalisten letztlich zu umfangreichen Studien zum Lebensglück führte und zur Verankerung des Rechts auf Glück in der Verfassung des Königsstaats.
In Bhutan haben sich Zeit, Natur und Aufmerksamkeit als die drei wichtigsten Glücksfaktoren erwiesen. Zeit meint keinen Stress zu haben, weil drei Dinge gleichzeitig erledigt werden sollten: Zeit für Soziales zu haben, für den Tratsch mit der Nachbarin; Aufmerksamkeit erklärt Sedmak damit, dass man von den Leuten als Mensch gekannt wird: „Die Leute im Dorf wissen, wer du bist.“ In Bhutan haben die Erkenntnisse konkrete Folgen: „Es kostet viel mehr Geld, Natur kaputt zu machen, als sie so zu belassen, wie sie ist“, kommentiert Sedmak die Entscheidung Bhutans, 26 Prozent seiner Fläche zum Nationalpark zu erklären.
Wie wir mit beglückenden Momenten wirtschaften
Studien des US-amerikanische Ökonomen Richard Easterlin zeigen, dass Lebenszufriedenheit nicht immer mit Wohlstand korreliert, sich mitunter sogar reziprok verhält. Eine texanische Studie an 900 berufstätigen Frauen zeigt, dass diese die meiste Zeit für Lebensbereiche aufwenden, die ihnen weder Zufriedenheit noch Glück bringen – während sie nur wenig Zeit für beglückende Bereiche aufbringen. „Da läuft doch irgendetwas schief“, spekuliert Sedmak und fragt: „Machen wir vielleicht etwas fundamental falsch, wenn wir unser Leben und unsere Gesellschaft auf ein Wachstumsmodell aufbauen?“
„Der letzte Schrei in der Wirtschaftswissenschaft ist Happiness-Economics“, so Sedmak: Was bringt dir Zufriedenheit und worauf möchtest du deine Energien konzentrieren? Seit April 2012 veröffentlichen die Vereinten Nationen jährlich einen World Happiness Record: Finnland gilt derzeit als das Land mit den glücklichsten Einwohnern, Österreich liegt auf Rang 10 von 95 Ländern – Bhutan wurde wegen unvollständiger Daten nicht ins Ranking aufgenommen.
Glück haben oder glücklich sein – was ist das jetzt eigentlich?!
Philosophen unterscheiden Happiness, also Glück, als mentalen Zustand von Happiness als Lebenszufriedenheit: Ja zum Leben zu sagen. Der Hedonismus sagt, du kannst Ja zum Leben sagen, wenn du mehr Lust als Schmerz hast. Dabei geht es aber um real Erlebtes; Erfahrungen aus Büchern, TV oder Virtual Reality haben kaum Effekt. Die Desire Theory besagt hingegen: Du bist glücklich, wenn deine Wünsche befriedigt werden. „Manche Menschen sind glücklich, weil sie keine Ahnung haben, dass ihr Leben anders sein könnte“, wirft Sedmak ein und nennt als Beispiel unterdrückte Frauen in Bangladesh, die durchaus glücklich leben können.
„Es müssen informierte Wünsche sein und tatsächlich eigene Wünsche.“ Keine Wünsche in Konkurrenz mit oder in Opposition zu anderen, wie oft bei Geschwistern beobachtet. Auch von objektiven Listen, was für Glück nötig sei, hält Sedmak wenig: „Geglücktes Leben ist authentisch, wo du das Eigene findest und dich nicht an objektiven Listen abarbeitest.“
Als interessanteste Erkenntnis der Untersuchungen in Bhutan zu geglücktem Leben bezeichnet Sedmak aber die Einsicht: „Glück ist ein Gemeinschaftsgut! Wir sehen Glück oft als kompetitives Gut“, auf Wettbewerb beruhend. „Glück ist aber ein kooperatives Gut, das mehr wird, wenn wir es teilen.“ Sedmak interpretiert aus dem World Happiness Report 2012: „Der größte Glücksräuber ist die Angst: Habe ich den Status und die Uhr dazu.“
Die verletzte Seele
Der Philosoph Augustinus von Hippo vergleicht die menschliche Seele mit einem Haus oder mit Ackerboden. Der Augustiner Chorherr Johannes Kassian Speiser beschreibt sie als Feder oder als Mühlstein. Solche Bilder helfen, Funktion und eventuelle Verletzungen der Seele zu erklären: Die Seele muss ständig etwas verarbeiten, so wie der Mühlstein sich ständig dreht. Wird sie verletzt, so dreht sie sich ins Leere und hat nichts, was sie verarbeiten kann. Oder sie dreht sich nicht weiter, weil das, was sie zerreiben soll, zu groß ist; oder weil der Mühlstein kaputtgeschlagen ist. Oder sie dreht sich ins Leere, weil der Kontakt zum Außen abgerissen ist und sie daher kein Futter mehr bekommt.
Anhand der Bilder kann man auch Faktoren für Resilienz, also seelische Widerstandsfähigkeit suchen. Vor der Vorstellung, Resilienz sei auf einfachem Weg lehr- und lernbar, warnt Clemens Sedmak: „Menschliche Persönlichkeit ist kompliziert, sodass man Resilienz nicht auf eine Fähigkeit abkoppeln könnte. Resilienz ist auch kein Schwangerschaftsbegriff. Eine Frau ist schwanger oder eben nicht – es gibt wenig dazwischen. Bei Resilienz ist das nicht so.“ Menschen könnten in einer bestimmten Lebensphase resilient gegenüber einer Art von Herausforderung sein, während sie gleichzeitig einer anderen ausgeliefert seien.
Leben wie im Paradies!
In den Religionswissenschaften gibt es die sogenannten Paradiesstudien: Studien darüber, wie in verschiedenen Religionen und Traditionen das Paradies vorgestellt wird. Sehr oft wird das Paradies als Garten beschrieben, der Schutz und Geborgenheit bietet. Angstfreiheit ist ein wesentlicher Faktor für Glück. Ein anderes, immer wiederkehrendes Motiv sind Ordnung und Struktur als Gegenteil vom Chaos. Und das Paradies erfüllt die Explorationsbedürfnisse des Menschen: Es gibt immer wieder etwas zu entdecken und zu erforschen.
Ob bei eingangs erwähnter Utopie zur idealen Gesellschaft stellt Sedmak auch zu den Vorstellungen vom Paradies die Frage nach den logischen Konsequenzen: „Was heißt das für eine geglückte Beziehung oder für ein geglücktes Leben?!“
[1] „Geglücktes Leben“, Univ. Prof. DDDr. Clemens Sedmak, Pro Juventute Fachtagung 2013; vollständige Aufnahme erhältlich bei https://www.ah-effekt.at/
Hörtipp
Beim launigen Vortrag „Geglücktes Leben“ beschreibt Univ. Prof. DDDr. Clemens Sedmak zusätzlich, wie Eltern und Pädagogen ihre Kinder zu glücklichen Menschen erziehen und dabei auf ihr eigenes Glück achten können. Dieser und weitere Vorträge von Clemens Sedmak sind bei https://www.ah-effekt.at/ erhältlich.
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