Singen im Chor mit Cochlea Implantat

Als Sylvia Reitmann ertaubte, war das nur eines ihrer gesundheitlichen Probleme in Folge ihrer Glasknochenkrankheit. Vom Singen hat sie sich nie abbringen lassen und wurde vom ChorForum Wien dafür sogar ausgezeichnet.

singen mit cochlea implantat
©Gesangverein der Steirer in Wien

Ein Altbaubüro in Wien-Währing, das Fenster geht in den kopfsteingepflasterten Innenhof. Während DI(FH) Gerald Schwarzecker, Techniker beim österreichischen CI-Hersteller MED-EL, auf die Computertastatur tippt, lässt er sein Gegenüber nicht aus den Augen. Die 39-jährige Sylvia Reitmann erwidert den Blick, unter dem Kurzhaarschnitt blitzen ihre Augen neugierig durch die großen Gläser ihrer getönten Brille.

„Das höre ich“, lacht sie plötzlich auf: „Hihi, das klingt lustig!“ Dann sammelt sie sich wieder und wartet konzentriert auf den nächsten Impuls. Die Szene wiederholt sich mehrfach, bevor der Techniker den Audioprozessor aktiviert und die gebürtige Steirerin das erste Mal mit ihrem neuen Cochlea Implantat hört. Sylvia Reitmann strahlt, dann hält sie kurz inne: „Ich bin schon neugierig, wie das mit dem Singen jetzt wird?!“

„Jetzt höre ich eigentlich alles!“

Diese Szene bei der CI-Erstanpassung ist jetzt zwanzig Jahre her. Über Sylvia Reitmanns Ohren lugt heute jeweils ein OPUS 2 Audioprozessor hervor. Singen ist ihr zurzeit zwar nur eingeschränkt möglich: Die Corona-Pandemie hat regelmäßige Chorproben in den letzten Monaten erschwert. Wenn Proben stattfinden, ist das langjährige Mitglied des Gesangvereins der Steirer in Wien dank CI aber wieder voll dabei. „Ich höre eigentlich alles. Auf mein Upgrade auf SONNET 2 freue ich mich trotzdem schon jetzt!“ Damit werden ihr auch integrierte, kabelfreie Bluetooth-Technologien zur Verfügung stehen – bis dahin hilft sie sich mit der Arton3Max Bluetooth-Nackenschleife: „Damit höre ich auch mit dem Handy und beim Fernsehen 100 Prozent.“

Der Wechsel auf den aktuellen Prozessor war der 59-Jährigen mit einer Schwäche für Frösche und exotische Blumen bisher nicht möglich, weil sie in den letzten Monaten mit gesundheitlichen Problemen beschäftigt war – direkte oder indirekte Folgen einer genetischen Besonderheit, die sie seit ihrer Geburt begleitet.

Knochen wie Glas

Die Geburt ist nicht nur für die werdende Mutter anstrengend, sondern auch für das Neugeborene. Der Geburtskanal ist so eng, dass der Schädel des Babys nur durchpasst, weil die einzelnen Knochenteile sich zu diesem Zeitpunkt noch zueinander verschieben können und die Knochenstruktur selbst noch weich und flexibel ist: Der Schädel weicht dem Druck während des Geburtsvorgangs und lässt sich deformieren.[1] In der Regel bildet sich diese Verformung kurz nach der Geburt wieder zurück.

Sylvia Reitmann wurde aber mit der Glasknochenkrankheit geboren, auch Osteogenesis imperfecta oder Morbus Lobstein genannt. Eines von 10.000 bis 15.000 Neugeborenen weisen diese seltene Erbkrankheit auf, die sich durch unvollständige Knochenbildung, Knochenverformungen, erhöhte Brüchigkeit der Knochen und Kleinwuchs auszeichnet. Begleiterscheinungen können verstärkte Neigung zu Hämatomen und Probleme bei der Zahnbildung sein sowie Gelenksprobleme und Funktionsstörungen der Herzklappen. Man unterscheidet fünf Typen der Glasknochenkrankheit: Bei Typ 1 sind Knochen- und Bindegewebe zwar weniger stark betroffen, dafür sind zusätzlich Sehen und Hören beeinträchtigt – wie bei Sylvia Reitmann.

Sind die Knochen spröde und brüchig wie Glas, kann schon der Geburtsvorgang zu Knochenbrüchen führen. Die Folgen – ein zurückgedrückter Gesichtsknochen und der Vorbiss des Unterkiefers – blieben der Steirerin, bis sie im Alter von 19 Jahren an der Grazer Kieferchirurgie operiert wurde. Sie deutet lachend auf ihren Nasenrücken: „Hier habe ich einen Beckenknochen.“ Mit der Operation war die junge Frau endlich das offensichtliche Merkmal los, das sie bis dahin stigmatisiert hatte. Kurze Zeit später setzten erste Hörprobleme ein.

„Der Wunsch nach einem zweiten CI war bald da!“

„Der Zusammenhang zwischen der Glasknochenkrankheit und dem Hörverlust ist noch nicht vollständig erforscht“, erklärt Reitmann. Im Jahr 2000 war ihre Höreinschränkung so weit fortgeschritten, dass sie für das rechte Ohr ein letztes, besonders starkes Hörgerät bekam. Zusätzlich nutzte sie eine flexible, damals innovative FM-Anlage als Gesprächsverstärker. „Den Empfängerteil habe ich um den Hals getragen.“ Ein Jahr später war auch das nicht mehr ausreichend, sie stimmte einer Cochlea Implantation zu. Im Mai 2002 setzte ihr Prof. Dr. Wolf-Dieter Baumgartner an der Universitätsklinik Wien am rechten Ohr ein MED-EL Combi 40+ ein. Bei der Aktivierung einen Monat später saß dem CI-Techniker eine gut gelaunte Sylvia Reitmann gegenüber, die sich lachend über jeden neuen Ton freute.

„Der Wunsch nach einem zweiten Implantat für die andere Seite war ja auch schon länger da.“ Als die CI-Nutzerin am Vorplatz vor dem Bahnhof dann von einem jungen Mann umgerannt wurde und stürzte, fuhr ihr der Schreck in die Knochen: „Wenn das CI dabei kaputt gegangen wäre?!“ Dieses Erlebnis gab dann den Ausschlag: Im August 2004 bekam sie auch auf der zweiten Seite ein CI.

Schon ab 2002 kam Reitmann wöchentlich zu den Logopädinnen Maria Lautischer und Michaela Blineder an die Universitätsklinik zur Hörrehabilitation. „Übungsprogramme für zuhause gab es damals ja noch nicht. Am AKH hatten sie aber ein Computerprogramm, mit dem ich üben durfte.“ Dabei hat die Wahlwienerin die Übungen auch immer mitgeschrieben und dann zuhause mit Übungspartnern wiederholt. Spezielles Musiktraining hat sie keines gemacht: „Vielleicht hätte ich das machen sollen.“ Es dauerte einige Zeit, bis sie auch wieder richtig singen konnte.

„Schwerhörige sprechen lauter, aber sie singen auch lauter.“

„Bei uns daheim war es üblich, beim Geschirrabwaschen mit der Oma zu singen“, erinnert sich Sylvia Reitmann an ihre Kindheit und Jugend bei den Großeltern. Sie lernte auch Akkordeon zu spielen, bis die Schule ihr nicht mehr genug Zeit zum Üben ließ. Gesungen hat sie weiterhin.

Als Reitmann 1982 zum Studium nach Wien kam, suchte sie nach Anschluss auch im musikalischen Sinn. „Ich wusste von einem Kärtner-Chor in Graz. Also dachte ich: So etwas muss es doch auch für die Steirer in Wien geben.“ Damals noch ohne Internet, blieb ihre Suche vorerst aber erfolglos. Erst 1995, kurz vor der Sommerpause, machte ein befreundetes Ehepaar sie auf eine Zeitungsanzeige aufmerksam: „Der Gesangverein der Steirer in Wien sucht Sänger.“ Nach der Probezeit wurde die studierte Datentechnikerin offiziell im Oktober aufgenommen. Es folgten zahlreiche Auftritte und Konzerte, sowie etliche Chorreisen in Österreich und ins benachbarte Ausland: „Damals war ich recht sattelfest im Singen. Das bin ich jetzt seit einigen Jahren wieder.“

Eine Zeit lang was das für die begeisterte Sängerin aber nicht möglich. „Für Schwerhörige ist es ja typisch, dass sie lauter sprechen. Aber sie singen auch lauter“, seufzt Reitmann in Erinnerung an die ersten Anzeichen, als Hörverlust ihre gesanglichen Fähigkeiten zunehmend einschränkte. Um die Jahrtausendwende verlor sie das Hörvermögen für weitere Tonbereiche, die sie damit beim Singen auch nicht mehr kontrollieren konnte. Irgendwann konnte sie nicht mehr mitsingen. „Ich habe mich aber immer dazugesetzt und zugehört, damit ich den Anschluss nicht ganz verliere.“

Erst mit den Cochlea Implantaten konnte sie wieder zum Gesang zurückfinden. „Bei Liedern, die ich schon kannte, ist das schneller gegangen. Bei neuen Liedern brauche ich jetzt auch noch ein oder zwei Wiederholungen mehr, bis ich die Melodie kann.“

„Man muss sich selbst mögen und positiv denken!“

Schräg hinter Sylvia Reitmann zeigt eine mechanische Wanduhr, wie rasch beim Plaudern die Zeit vergangen ist. Als Gewichtszug dient der Uhr ein blitzgrüner Frosch, der frech die Zunge zeigt – einer von vielen Fröschen aus Reitmanns Sammlung. Ihre Sammelleidenschaft erstreckt sich auch auf Zitate, wie die hier abgedruckten, und auf Blumen: Schmetterlingsorchideen verleihen den Zimmern ihrer Wohnung weiße, gelbe und viele lila Farbtupfer und schenken ihrer Besitzerin Stolz und Freude.

Freude gemacht hat Reitmann auch die Arbeit als Technikerin bis zu ihrer gesundheitlich bedingten Pensionierung 2008, und ab 2009 eine ehrenamtliche Tätigkeit im Blinden- und Sehbehindertenwohnheim Wien-Baumgarten und ihr Engagement als Lesepatin. „Langweilig ist mir nie“, gesteht sie lachend. Diese Vitalität hat sie durch keine ihrer gesundheitlichen Probleme verloren. „Die Kieferfehlstellung war damals für mich schlimm. Heute würde man sagen, ich wurde deswegen gemobbt – nicht nur von Kindern, auch von manchen Lehrern. Als das operiert war, war ich wirklich froh! Nach dieser Erfahrung war das Hörthema kein so großes Problem mehr. Sogar die Herzprobleme haben mich nicht mehr umgeworfen.“

„Ich war aber schon immer ein positiv denkender Mensch. Ich weiß nicht, ob man sich das auch aneignen kann.“ Ob auch Singen zu dieser Fröhlichkeit beiträgt? „Das kann schon sein. Die Neugierde, wie das Singen mit CI sein wird, die war jedenfalls groß.“ Für 25 Jahre Engagement als Chorsängerin und im Vereinsvorstand beim Gesangverein der Steirer in Wien verlieh das ChorForum Wien der geborenen Steirerin im Dezember 2021 das Silberne Ehrenabzeichen. Wir gratulieren!

[1] MR-Aufnahmen der üblichen Verformungen auf https://www.spektrum.de/news/scans-wie-sich-der-kopf-bei-der-geburt-verformt/1646478

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Walter Widler bezeichnet sich selbst als Musikant und legt Wert auf die Unterscheidung zu Musikern. Mit seinen verschiedenen Ensembles umrahmt er Feiern und Veranstaltungen musikalisch. Er spielt Geige, Bratsche, Saxophon und Gitarre.

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