Wie wir uns vor Lärm schützen – auch mit Hörgerät oder Hörimplantat
Unter andauernder Lärmbelastung leidet nicht nur das Hörvermögen, sondern auch Körper und Psyche. Wichtig sind Schutz vor übermäßigem oder dauerhaftem Lärm und Ruhepausen im wörtlichen Sinn.
Früher war es primär Berufslärm, der Hörschäden verursachte. Heute kommt so etwas wie „Wohlstandslärm“ hinzu: Stundenlanger Musikgenuss, oft über Kopfhörer und bei ungesunder Lautstärke, verschiedener anderer Freizeitlärm sowie die vielfältigen Umgebungsgeräusche unserer mobilen Industriegesellschaft.
Dr. Paul Martin Zwittag ist als Primar der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Kepler Universitätsklinikum in Linz mit den Folgen konfrontiert: „Kontinuierliche Lärmbelastung schädigt das Ohr! Sie wirkt sich aber auch negativ auf Herz-Kreislauf und Gefäße, Hormonsystem, auf Stoffwechsel mit dem Risiko für Diabetes Typ 2, Schlafqualität, psychisches Wohlbefinden und kognitive Leistung aus.“ Hochgradig schwerhörige oder taube Menschen weisen ein höheres Risiko zur Depression auf sowie eine bis zu fünf Mal höhere Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken – beides teilweise auch Folge eines sozialen Rückzugs als Reaktion auf die Hör- und Kommunikationsprobleme.
Stille zu hören ist für viele von uns schon so ungewohnt, dass sie schwer auszuhalten scheint. Doch diese Stille wird von Körper und Seele benötigt, um sich von Lärmbelastung zu erholen. „Auch wenn wir dank technisch ausgereifter Hörgeräte und High-Tech-Hörimplantate heute die meisten Schwerhörigen und sogar Taube gut versorgen können, müssen wir der Lärmhygiene viel mehr Bedeutung schenken.“ Der Spezialist für Hörimplantation warnt: „Lärm ist eine Beeinträchtigung, die sich nicht unmittelbar bemerkbar macht. Jahrzehnte später bekommt man aber die Rechnung präsentiert!“
Ruhepausen sind wichtig!
Wie Bildschirmpausen bei Computerarbeit sollten auch Lärmpausen selbstverständlich sein: Wer einen lauten Arbeitsplatz hat, sollte in der Pause einen ruhigen Platz aufsuchen. Körperliche Bewegung ist im Fitnesscenter oder sogar beim Schaufensterbummel möglich; der Dauerlauf oder Abendspaziergang im Park oder in der Natur bietet den zusätzlichen Vorteil einer Ruhepause im wörtlichen Sinn – auch für das Gehör.
Was ist schon laut?
Ein normales Gespräch wird in einem Meter Entfernung in einer Lautstärke von etwa 60 Dezibel gehört. Im Großraumbüro rechnet man mit 70 Dezibel Lärmkulisse. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Geräusche ab 65 Dezibel als Lärmbelastung, ab 75 Dezibel stufen Fachleute sie als schädigend ein. Ein Radio kann diese Lautstärke rasch erreichen, aber auch ein alter Geschirrspüler oder der Wäschetrockner.
Ein Rasenmäher brummt mit etwa 85 Dezibel, ebenso der Verkehr auf einer stark befahrenen Straße. Für den Arbeitsplatz schreibt der Gesetzgeber ab 85 Dezibel Lärmbelastung das Tragen von Gehörschutz vor. Doch auch der Pausenlärm am Schulhof erreicht häufig 85 Dezibel, in einem belebten Lokal kann es mitunter noch lauter werden!
Lärm ab 120 dB – der Lärm eines Presslufthammers, der Donner eines nahen Gewitters oder die übliche Lautstärke der Musik bei einem Heavy-Metal-Konzert – ist für unsere ungeschützten Ohren schmerzhaft.
Lärm: am Arbeitsplatz limitiert, in der Freizeit kaum
Das Hörvermögen ist nach einem Konzertbesuch oft deutlich reduziert, kann sich aber meist wieder erholen, wenn das Gehör im Anschluss lange genug vor weiteren Lärmbelastungen geschützt bleibt. Häufiger oder langanhaltender Lärm wirkt sich aber dauerhaft auf das Hörvermögen aus.
Der gesetzliche Arbeitsschutz geht davon aus, dass wir die arbeitsfreie Zeit auch als Ruhepause im wörtlichen Sinn nutzen. Dem gegenüber steht nicht nur die Lärmbelastung durch Auto- und Flugverkehr sowie durch Industrielärm; auch in der Freizeit wird es bei Veranstaltungen und in Sportstätten immer häufiger ungesund laut.
Besonders in der Großstadt fehlen oft geeignete Rückzugsorte. Nicht nur Jugendliche begegnen dem, indem sie sich mit einer Art akustischer Schallmauer von ihrer Umgebung abschirmen: Mit sogenannten In-Ear-Kopfhörern wird so laut Musik gehört, dass das Rundherum übertönt oder zumindest ausgeblendet werden kann. Schleichender Hörverlust, Tinnitus und weitere Lärmschäden drohen, auch wenn sie nicht immer zeitnahe bewusst werden.
Die persönliche Lärmbelastung messen
Schon der Geräuschpegel in einem Großraumbüro kann belastend sein. Lärmbelastung am Arbeitsplatz kann man mit einen Lärmdosimeter messen: Es erfasst sowohl kurzzeitige Spitzenbelastungen als auch die tägliche Dauerbelastung. Diese Messdaten helfen auch bei der Wahl geeigneter Maßnahmen. Vorrang hat Lärmreduzierung vor persönlichem Lärmschutz, letzter Ausweg ist zeitlich verkürzte Lärmeinwirkung.
Im privaten Bereich kann schon eine „Lärm-App“ Orientierung schenken. Einige solcher Applikationen fürs Smartphone werden kostenfrei angeboten. Sie geben aber nur ungefähre Anhaltspunkte.
Zusätzliche Belastung über Kopfhörer werden weder vom Lärmdosimeter noch von der App erfasst!
Schleichende Lärmschäden bleiben oft unbemerkt
Unser Körper reagiert selbst dann auf Lärmbelastung, wenn uns die Lautstärke nicht – oder in Folge der Gewöhnung nicht mehr – bewusst ist: Stetiger Lärm einer nahen Straße löst Stressreaktionen aus, Blutdruck und Herzfrequenz steigen messbar; auch die mittlerweile übliche Dauerbeschallung in Shoppingcentern kann ähnlichen Effekt haben. Von Betroffenen bleibt das häufig über lange Zeit unbemerkt.
Auch Lärmschwerhörigkeit bleibt oft lange unerkannt, auch kleine Schäden summieren sich über Jahre im Hörorgan. Primar Zwittag rät allen Eltern: „Den Nachwuchs frühzeitig auf die Gefahr hinweisen; ihn auffordern, die Musik im Ohr leiser zu drehen und immer wieder Lärmpausen einzulegen!“
Als Erwachsene sind wir angehalten, richtiges Verhalten vorzuleben: Auch beim Rasenmähen, beim Motorradfahren oder beim Konzertbesuch sollten wir auf passenden Gehörschutz nicht vergessen. Beim Musizieren gehen die meisten Profimusiker mittlerweile mit gutem Beispiel voran. Im Großen sind Stadtentwicklung und Landschaftsbau, aber auch Architektur, Produktdesign und viele andere Bereiche gefordert, die Lärmemission zu reduzieren und Ruheräume zu schaffen.
Welcher Kopfhörer schont das Gehör?
„Im-Ohr-Stöpsel“ können das Hörvermögen bedrohen und Lärmschäden mitverursachen; weniger belastend sind locker sitzende sogenannte Earbuds. Im Sinne des Lärmschutzes wäre aber eindeutig Muschelkopfhörern der Vorzug zu geben: Sie dichten das Ohr nicht ganz ab und unter einer großen Muschel hat sogar das Hörgerät oder der HdO-Audioprozessor Platz.
Zum akustischen „Abtauchen“ hilft eine sogenannte „Noise Cancelling“- Funktion, bei der Umgebungsgeräusche aktiv unterdrückt werden. Sie wird mittlerweile bei Kopfhörern aller Bauformen angeboten.
Dem Ohr Stille gönnen
Eine Innenohr-Lärmschwerhörigkeit macht sich oft bemerkbar, indem der Betroffene meint, dass seine Gesprächspartner undeutlich sprechen. Gespräche in größerer Runde oder in lauter Umgebung werden anstrengend, Frauen- und Kinderstimmen schwer verständlich. Familienmitglieder oder Nachbarn beschweren sich über eine zu laute TV- oder Stereoanlage. Sind die Sinneszellen im Innenohr erst einmal zerstört, kann dieser Schaden nicht mehr rückgängig gemacht werden. Im Anfangsstadium können konventionelle Hörgeräte oder auch passende Hörimplantate helfen.
Cochlea Implantate werden dann eingesetzt, wenn das Innenohr so weit funktionsunfähig ist, dass auch mit Hörgerät Sprachverstehen nicht mehr möglich ist. Dann kann Lärmbelastung zwar keinen dauerhaften Hörschaden verursachen, doch auch bei CI-Nutzern reduziert Hörermüdung das Hörvermögen zumindest vorübergehend. Auch die körperlichen Stressreaktionen auf Lärm treten bei CI-Nutzern ungemindert auf – bis hin zu vegetativen und psychischen Schäden.
In der ersten Zeit mit Cochlea Implantat schätzen viele Nutzer eine Hörpause tagsüber, um von der anfänglichen Anstrengung des Zuhörens zu entspannen. Bei Menschen ohne CI beugen Hörpausen gegen Lärmschäden vor und ermöglichen die Regeneration eines lärmbelasteten Gehörs. Primar Zwittag verweist auf einen weiteren Effekt: „Regelmäßige Lärmpausen sind sogar ein Teil der Burn-out-Prophylaxe!“
Fortschreitende Lärmverschmutzung in Europa
Die Europäische Umweltagentur EUA beklagt zunehmende Lärmverschmutzung[1]: Jeder fünfte Europäer lebt in einer Umgebung, deren Lärmpegel gesundheitsschädlich ist. Hauptverantwortlich ist demnach der Straßenverkehr.
Diese Lärmverschmutzung hat Folgen: Jährlich führt sie bei 6,5 Millionen Menschen zu Schlafstörungen, weiters zu 48.000 koronaren Herzerkrankungen und sogar zu 12.000 vorzeitigen Todesfällen. Weiters geht die EUA davon aus, dass Flug- und Straßenlärm bei 12.500 Kindern kognitive Beeinträchtigungen auslöst: beispielsweise eine Leseschwäche.
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