Was Hören und Cochlea Implantate mit sozialer Intelligenz zu tun haben

Im sozialen Alltag müssen wir nicht nur hören und auditiv verstehen, sondern auch interpretieren, inhaltlich und emotional verstehen. CI-Therapie sollte all das beinhalten, fordert Sonderpädagogin Katrien Timmerman, MSc. beim Symposium der EURO-CIU.

Wir sprechen beim Computer heute von Künstlicher Intelligenz und machen dabei oft auch den Umkehrschluss: Wir vergleichen die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns mit der digitalen Logik herkömmlicher Systeme zur elektrischen Datenverarbeitung. Das wird der menschlichen Interpretationsfähigkeit nicht gerecht, wie Katrien Timmerman, MSc. in ihrem Vortrag beim Symposium der EURO-CIU im November 2022 in Rotterdam darlegte. Sie erklärte auch den wesentlichen Anteil des Hörvermögens am Denkprozess und was passiert, wenn es fehlt.

Timmerman ist Sonderpädagogin mit Fokus auf Sinnesbeeinträchtigungen und Dolmetsch für flämische Gebärdensprache. Die Belgierin ist Koordinatorin der Frühförderung und als Sonderpädagogin an Schwerhörigenschule und -internat der Region Brüssel tätig sowie am Kompetenzzentrum KIDS in Flandern, einer Einrichtung für Kinder und Erwachsene mit Hör-, Sprech- und Sprachstörungen oder autistischen Problemen. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt bei hörbeeinträchtigten Kindern mit zusätzlichen Beeinträchtigungen, bei der Entwicklung der Theory of Mind, beim Thema Inklusion und bei der gesellschaftlichen Sensibilisierung für Diversität.

„Wir lesen Gefühle nicht vom Gesicht des anderen, sondern wir verbinden dessen Mimik mit weiteren Kontextinformationen, wie zum Beispiel der Klangfärbung eines Gesprächs.“

Katrien Timmerman

Computer denken schnell und richtig, aber sie verstehen nichts

Herkömmliche Computer tun genau das, was man ihnen mittels Programmcode vorgibt. Sie folgen dabei dem logischen Ablauf: Eingabe – Vorgegebene Verarbeitung – Ausgabe. Diese strenge Logik ist oft vorteilhaft: Computer können Anweisungen sehr schnell erledigen, besonders wenn es sich im Entferntesten um so etwas wie Rechenaufgaben handelt.

Im Rahmen dieser strikten Logik können Computer sogar extrapolieren – also einen definierten Wert vorhersagen. Ein Computer kann aber nicht verstehen und nicht vermuten; und er kann auch keine Vorhersagen im eigentlichen Sinn treffen. Diese Fähigkeiten zeichnen den Menschen und dessen Denkweise aus.

Menschliches Denken ist Interpretation und Vorhersage

„Unser Hirn ist kein Computer!“, betonte Timmermann beim Kongress der EURO-CIU und verwies auf die Arbeit des Belgiers Peter Vermeulen[1] zum menschlichen Gehirn als vorhersagendes Organ. Zur Erläuterung zeigte sie das abgebildete Rätsel. Würden wir gemäß des Arbeitsmodells herkömmlicher Computer in der Reihenfolge „Eingabe – Verarbeitung – Ausgabe“ denken, werden wir die Ziffern als Zahlenfolge behandeln. Interpretationssache bleibt vielleicht die Abfolge: 1-3-5-2-4-? oder 1-2-3-4-5?.

„Um in der modernen Gesellschaft zu überleben, brauchen wir ein Gehirn, das die Welt schnell und unbewusst vorhersagt und dabei den Kontext angemessen berücksichtigt“, heißt es aber in der Zusammenfassung von Vermeulens Buch. „Das Gehirn macht unbewusste und superschnelle Vorhersagen über die Welt. Das Gehirn bittet um Rückmeldung von den Sinnen über die Vorhersagen, die es gemacht hat.“

Diese Rückmeldungen der Sinne geben uns auch Zusatzinformationen. Mit einer solchen Zusatzinformation kann unser Verstand das Ziffernbild neu interpretieren: Wenn wir das „1-3-5/2-4-?“ im Auto sehen, ergänzen wir fast automatisch mit „R“ wie beim Ziffernbild am Knüppel einer Gangschaltung.

Für derartige Interpretationen benötigen wir also zusätzliche Information über den Kontext einer Aussage oder einer Fragestellung.

Sinneswahrnehmungen für richtige Interpretation

Für unsere Vorfahren war das Vorhersehen einer Handlung oder Situation überlebenswichtig: Je zutreffender ein Mensch vorhersagen und damit vorausschauend und zuvorkommend handeln konnte, umso besser waren seine Überlebenschancen. Heute haben diese Fähigkeiten vorwiegend Einfluss auf unser geschäftliches Überleben sowie auf gesellschaftliches und soziales Leben.

Die Qualität unserer Vorhersagen verbessern wir ständig, wir lernen und üben unsere soziale Interpretation: Wir vergleichen die von uns vermutete Entwicklung mit dem dann folgenden, tatsächlichen Geschehen. Die Wahrnehmungen unserer Sinne – auch jene des Hörens – sind dabei besonders wichtig: Erst, um vorab alle nötigen Informationen für eine korrekte Voraussage zu sammeln; im Nachhinein, um zu prüfen, wie korrekt unsere Interpretation war.

Interpretation bei eingeschränkter akustischer Wahrnehmung

Wenn Informationen fehlerhaft sind oder teilweise fehlen, werden sowohl die Interpretation und Vorhersage anstrengend und fehleranfällig wie auch die Überprüfung derselben. Das kostet den Betroffenen zusätzliche Energie und Zeit. Die zunehmende Fehlerhäufigkeit frustriert.

Auch für gelungene Kommunikation benötigt unser Verstand neben dem möglichst vollständig verstandenen Wortlaut einer Kommunikation auch Kontextinformationen: Mimik und Gestik, aber auch Prosodie, Wortklang und Sprachmelodie. Besonders eindrucksvoll ist die Klangfärbung, die wir zynischen Wortmeldungen geben.

„Wir lesen Gefühle nicht vom Gesicht des anderen, sondern wir verbinden dessen Mimik mit weiteren Kontextinformationen“, erklärte Timmerman, warum es so leicht zu Missverständnissen und Missinterpretationen kommt, wenn wir zum Beispiel die Klangfärbung in einem Gespräch nicht wahrnehmen können. Solche Missverständnisse trüben für Betroffene das gesellschaftliche und soziale Miteinander, Kindern erschweren sie soziales Lernen.

Wie wir soziale Fähigkeiten entwickeln

Im ersten Lebensjahr reagieren Kinder zum Beispiel auf das Lächeln einer Bezugsperson. Bei Eintritt in den Kindergarten können sie dann schon die aktuelle Stimmung anderer erfassen und sich danach verhalten. Bis zum Vorschulalter lernen sie, ihre eigenen Meinungen und Gedanken von denen anderer zu unterscheiden. Sie können die Beschreibung einer Situation als richtig oder falsch einstufen.

Die sogenannte Theory of Mind meint genau das:

  • Perspektiven anderer einnehmen zu können
  • Gedanken, Wünsche, Gefühle anderer verstehen zu können
  • auf den Wissensstand anderer Rücksicht nehmen zu können
  • zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden zu können

Um diese Fähigkeiten zu entwickeln, benötigen wir Selbsterkenntnis und -wahrnehmung sowie verschiedene Kontextinformation.

Bei hörbeeinträchtigten Kindern ist die Entwicklung dieser Sozialkompetenzen meist verzögert, selbst bei altersgemäßer Sprachentwicklung: Einerseits sind semantische Informationen der Sprache, Nuancen und Klangvariationen für hörbeeinträchtigte Kinder oft schwer erfassbar; Andererseits können sie bei „im Augenwinkel“ beobachteten Situationen die zugehörige Kommunikation oft nicht verstehen. Damit können sie solche zufällig miterlebten Situationen nicht für das soziale Lernen nutzen.

Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht Kinder gehörloser Eltern, bei denen die Gebärdensprache allgemeine Familiensprache ist und damit auch alle Informationen non-auditiv gegeben werden.

Konsequenzen für die Förderung hörbeeinträchtigter Kinder

Die Hör-Sprach-Therapie muss natürlich auf Wortschatz, Grammatik und die Vertiefung der Wissensvermittlung fokussieren. Bei Kindern in Regelschulen ist das auch an den höheren Schulstufen noch wichtig, damit sie dem Unterricht sicher gut folgen können.

Um auch die Entwicklung sozialer Kompetenzen zu unterstützen, müssen wir mit den betroffenen Kindern auch

  • Selbstwahrnehmung und Ausdruck eigener Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse üben.
  • Begrifflichkeit zu Gefühlen und Gedanken üben.
  • die Kinder anhalten, die Absichten anderer zu erkennen und empathisch die Gefühle und Gedanken anderer nachzuempfinden.

Es reicht aber weder für die sprachlich-kommunikativen noch für die empathischen Fähigkeiten, sie ausschließlich in der Therapiesituation zu erlernen. Damit diese Fähigkeiten geübt und in den Alltag eingebunden werden, müssen auch die Eltern lernen, all das selbst vorzuleben und bei den Kindern zu fördern.

Zu guter Letzt sollte bei Kindern mit Cochlea Implantaten auch die Entwicklung von Handlungsfähigkeit insgesamt gestärkt werden: „Verzögerte Entwicklung einiger organisatorischer Fähigkeiten wird bei hörbeeinträchtigten Kindern oft beobachtet“, erklärt Timmerman. Dabei seien Organisation und Flexibilität für hörbeeinträchtigte Menschen besonders wichtig: „Beim Zuhören und beim Vorbereiten von Hörsituationen – DolmetscherInnen zu engagieren, die eigene Ermüdung zu berücksichtigen und so weiter.“

Gelebte Inklusion bedarf bewusster Information

Auch wenn das Sprachverstehen mit Cochlea Implantat allgemein immer besser wird: Cochlea Implantat-NutzerInnen benötigen, wie alle hörbeeinträchtigten Menschen, erhöhte Konzentration und Anstrengung, um Alltagssituationen jeweils richtig einzuschätzen. Ein Teil der Kontextinformation wird trotz aller Konzentration fehlerhaft bleiben oder ganz verloren gehen. Das führt zu frühzeitiger Ermüdung und zu Problemen in der Kommunikation und im sozialen Umgang und in weiterer Folge zu erhöhtem Risiko für psychische Probleme.

Inklusion bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass im Alltag hörbeeinträchtigter Personen die jeweiligen hörenden BegleiterInnen bewusst und ausdrücklich alle möglichen Zusatzinformationen anbieten. „Manchmal geht es um die Situation selbst. Zum Beispiel, dass da viele Hintergrundgeräusche sind und das Hören daher für alle anstrengend ist. Oder dass man in der Intonation einer Stimme hören kann, dass der oder die Sprechende genervt ist“, erläutert Timmerman.

Wenn es in der Situation nicht möglich ist, dann fordert Timmerman im Anschluss zu erklären: „Zum Beispiel: Ich habe extra höflich mit dem Arzt gesprochen, weil das so üblich ist. Ich kann mit ihm nicht so reden wie mit meinem Freund. Oder: Diese Person hat so reagiert, weil jemand anderes in diesem Moment einer dritten Person etwas zugeflüstert hat.“ Das schenkt hörbeeinträchtigten Personen wichtige Informationen, die sie selbst nicht wahrnehmen konnten und hilft ihnen bei der Einschätzung der Situation. Kinder fördert es in der Entwicklung ihres Sozialverhaltens.

[1] Peter Vermeulen, Autism and The Predictive Brain – Absolute Thinking in a Relative World, Routledge, 26. Oct 2022, London, doi:10.4324/9781003340447, ISBN: 9781003340447

WISSENSWERT

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Informationsbroschüre über den Zusammenhang von Sprache mit sozialer Entwicklung und wie man soziale Entwicklung fördert. Erhältlich im ZENTRUM HÖREN oder als kostenfreier Download hier.

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