Von der Ersten Wiener Medizinischen Schule bis zum Cochlea Implantat
In Wien wurden zwei bedeutende Medizinische Schulen, eine Psychoanalytische Schule, Organtransplantationen und Hörimplantationen entwickelt, welche die internationale Medizin nachhaltig geprägt haben. Eine Führung mit Fremdenführerin MMag Christina Hieke-Kindlinger zu medizinischen Sehenswürdigkeiten in den Wiener Innenbezirken.
Das Maria-Theresien-Denkmal zwischen dem Naturhistorischen und dem Kunsthistorischen Museum ist für Wien-Rundgänge ein guter Ausgangspunkt, auch für einen Rundgang entlang der medizinischen Geschichte der Bundeshauptstadt. Beeindruckt von der mächtigen Statue jener österreichischen Kaiserin, die nie eine war – allen Bemühungen ihres Vaters zum Trotz wurde offiziell ihr Gatte Franz Stephan von Lothringen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – wird die Figurengruppe rechter Hand, mit Blick auf das Naturhistorische Museum, leicht übersehen. Angeführt wird sie von Gerard Freiherr van Swieten.
Als Anna von Lothringen, Regentin der österreichischen Niederlande und Schwester von Maria Theresia, an Kindbettfieber erkrankte, ließ man den Arzt van Swieten rufen. Der konnte zwar nicht helfen, doch seine Arbeitsweise beeindruckte die österreichische Monarchin, die mit ihm im Briefwechsel stand, sodass sie ihn als ihren eigenen Leibarzt nach Wien holen ließ.
Die Erste Wiener Medizinische Schule
In Wien reformierte van Swieten die Medizin mit seiner Forderung: „Wir müssen ans Bett und mit den Kranken reden!“ So gesehen hat van Swieten im weitesten Sinn Anamnesegespräch und Visite eingeführt. Davor war die übliche Vorgehensweise eine Art Ferndiagnose, wie sie heute aus gutem Grund verpönt ist.
Van Swieten erkannte, dass es für eine zielsichere Diagnose wichtig war, die Lebensbedingungen und Geschehnisse kurz vor der Erkrankung zu berücksichtigen. Der Arzt wollte medizinische Behandlung aber auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse aufbauen: Er richtete in der Akademie der Wissenschaften ein Labor für medizinische Forschung ein. Man nennt diese Reform der Medizin die Erste oder Ältere Wiener Medizinische Schule.
Die medizinische Versorgung in Wien
Vis à vis des Maria-Theresien-Denkmals können wir durch das Heldentor die Wiener Hofburg betreten, den Wohnsitz der damaligen Regenten Österreichs. Neben der kaiserlichen Familie wohnten auch die Hofdamen und verschiedenen Bediensteten mit ihren Familien hier: rund 10.000 Personen insgesamt. Ihnen allen stand 24 Stunden täglich ein Ärztenotdienst zur Verfügung sowie der freie Zugang zu einer Apotheke.
Das Bürgerspital vor dem Kärntnertor kümmerte sich um jenen Teil der Bürger, die nicht selbst für sich sorgen konnten. Dazu zählten neben Kranken, Schwangeren und Wöchnerinnen auch alte oder dauerhaft beeinträchtigte Bürger, sowie Waisen und sogar Pilger, wobei dabei die medizinische Versorgung erst im Lauf der Zeit an Bedeutung gewann. Das Bürgerspital musste sich selbst finanzieren – neben Schenkungen auch aus Wirtschaftsgütern, die dem Spital gehörten oder von ihm verwaltet wurden: aus zwei Badestuben, einer Mühle, dem einzigen Wiener Brauhaus und vielem mehr. Die größten Einnahmen erzielte das Bürgerspital mit Weinverkauf und -ausschank. Es stellte einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor in Wien und Umgebung dar.
Im Inneren Burghof der Hofburg finden wir das Denkmal von Franz II, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der 1804 Kaiser Franz I von Österreich wurde. Er heiratete als zweite Ehefrau Maria-Theresia von Neapel-Sizilien, die gleich in zweifacher Hinsicht seine Cousine ersten Grades war: von väterlicher und von mütterlicher Seite her. Franz I/II war insgesamt vier Mal verheiratet, verlor aber die ersten beiden Ehefrauen im Zug einer Entbindung; die beiden anderen Frauen waren nie schwanger geworden. Schwangerschaft und Entbindung waren für die Habsburgerfrauen ein Gesundheitsrisiko, beim „gemeinen Volk“ war die Frauensterblichkeit im Kindbett noch höher.
Das Erbe der Habsburger
Die Adelshäuser Europas litten, neben den damals üblichen Erkrankungen, in dieser Epoche alle unter Erbkrankheiten. Bei den Habsburgern brachte die Epilepsie manchem österreichischen Monarchen völlig ungerechtfertigt den Ruf eines Schwachsinnigen ein: Man konnte sich epileptische Anfälle nicht anders erklären. Verursacht war das durch die damals übliche Heiratspolitik in Europa. So heiratete Kaiser Leopold I die spanische Prinzessin Margarita Teresa, die gleichzeitig auch seine Nichte und seine Cousine war. In sechs Jahren Eheleben gebar sie ihm sechs Kinder, starb aber kurz nach der sechsten Entbindung im Alter von 21 Jahren.
Zweite Wiener Medizinische Schule
Der ungarisch-stämmige Arzt Ignaz Philipp Semmelweis führte das häufige Auftreten von Kindbettfieber besonders in öffentlichen Kliniken auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück. Seine These überprüfte er von 1847 bis 1848 mit einer Studie, die heute als erste Anwendung einer auf empirische Belege gestützte Medizin in Österreich gilt. Er war damit zugleich Schüler und erster populärer Vertreter der Jüngeren oder Zweiten Wiener Medizinischen Schule, die sich dem naturwissenschaftlichen Ansatz verschwor.
Semmelweis forderte von seinen Studenten am AKH Wien dann strenge Hygienevorschriften ein. Er konnte die Sterblichkeit bei Gebärenden von bis zu 15 Prozent – an manchen Kliniken reichte sie sogar bis zu 30 Prozent – auf 1,27 Prozent senken. Trotzdem machte er sich mit seinen Thesen und Forderungen bei vielen Kollegen unbeliebt. Nachdem er später in Budapest gelebt und gearbeitet hatte, verstarb er unter ungeklärten Umständen im Neurologischen Krankenhaus Döbling, auch Landesirrenanstalt genannt.
Sigmund Freud, die Psychoanalyse und die HNO
Wir verlassen die Hofburg in Richtung Nationalbibliothek, wo auch medizinische Schriften dieser Zeit verwahrt werden. Am Vorplatz zeigt ein Relief das Josephinum. Von Kaiser Joseph II als medizinisch-chirurgische Akademie zur Ausbildung von Militärärzten gegründet, beherbergen die Räumlichkeiten im nahen Alsergrund, dem 9. Wiener Gemeindebezirk, heute eine medizinhistorische Sammlung.
In der Nachbarschaft lebte und arbeitete auch der Neurophysiologe Dr. Sigmund Freud. Die Räumlichkeiten in der Berggasse 19 sind heute als Museum zugängig. Freud gilt nicht nur als Vater der Psychoanalyse, er hat auch mit dem damals noch unbekannten Kokain experimentiert. Er empfahl es als Schmerzmittel und zur Substitutionsbehandlung gegen Morphiumsucht. Dass auch Kokain süchtig machen kann, musste Freud später feststellen.
Angeregt von Freud, nützte der Augenarzt Karl Koller an der Augenklinik Wien am AKH, der ältesten Augenklinik der Welt, die schmerzstillende Wirkung des Kokains als Anästhetikum. Koller gilt in Folge als Begründer der modernen Lokalanästhesie, die heute auch in der HNO-Chirurgie genützt wird.
Allgemeines Krankenhaus Wien – Jahrhunderte medizinischer Spitzenleistungen
Das unter Kaiser Leopold I errichtete Großarmen- und Invalidenhaus im Bereich des heute für Universität und Gastronomie genutzten Alten AKH wurde von Kaiser Joseph II zum Ersten Allgemeinen Krankenhaus umgebaut und 1786 eröffnet. Der dortige Narrenturm, heute Pathologisch-anatomische Sammlung, war der erste Spezialbau zur Unterbringung von Geisteskranken. Vor allem im 19. Jahrhundert war das Wiener Allgemeine Krankenhaus Zentrum der Wiener Medizinischen Schule. Neben Ignaz Semmelweis arbeitete dort zum Beispiel der Nobelpreisträger Karl Landsteiner an der Entdeckung der Blutgruppen oder der Nobelpreisträger Róbert Bárány, der als HNO-Arzt und Neurootologe den Gleichgewichtssinn erforschte.
1984 führten Ernst Wolner und Axel Laczkovics im AKH die erste Herzverpflanzung in Wien durch. Bereits am 16. Dezember 1977 implantierte der Otologe Kurt Burian am AKH Wien das erste mehrkanalige Cochlea Implantat, das zuvor von Ingeborg und Erwin Hochmair an der Technischen Universität Wien entwickelt worden war und später zur Gründung des Hörimplantat-Herstellers MED-EL führte. Wie Semmelweis´ Forderung nach Hygiene führte auch der künstliche Ersatz des Hörorgans – bis heute das einzige Sinnesorgan, das künstlich wiederhergestellt werden kann – zu heftigen Kontroversen; es hat sich in der Zwischenzeit aber ebenso als zielsichere Hilfe für Betroffene etabliert und ist mittlerweile Routine. 1994 war die Übersiedlung der Klinik in den Gebäudekomplex des Neuen AKH abgeschlossen, wo aktuelle Leistungen der Wiener Spitzenmedizin angesiedelt sind.
Individuelle Themenführungen durch Wien
Wenn Sie jetzt wissen wollen,
- wie Freiherr van Swieten zum Vorbild von Dr. van Helsing bei Dracula wurde,
- wessen Wunde im alten Wien mit einer Ameisennaht versorgt wurde,
- warum Ritter häufig ein Schleudertrauma erlitten,
- warum Elisabeth von Österreich, genannt Sisi, ganz sicher nicht an Bulimie litt und
- was die Plastische Chirurgie mit dem ausschweifenden Leben von Erzherzog Otto des Schönen zu tun hat,
dann lassen Sie sich von MMag Christina Hieke-Kindlinger die Wiener Innenstadt zeigen! Führungen zu unterschiedlichen Themen sind möglich, Kindlingers Spezialgebiete sind aber Medizin in Wien und die Geschichte der Habsburger.
Kontakt:
MMag Christina Hieke-Kindlinger
E-Mail: christinakindlinger@hotmail.com
Tel.: +43650/7206038
Anm. d. Red.: Aufgrund der teils historischen Inhalte wurde in diesem Beitrag auf das Gendern des Textes verzichtet.
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