Hirnstammimplantat ABI: Hören nach einem Akustikusneurinom

Vor 20 Jahren stellte MED-EL sein erstes Hirnstammimplantat, auch: Auditory Brainstem Implant ABI, vor. Bauingenieur Markus Friedl hört seit zwei Jahren mit einem SYNCHRONY ABI des österreichischen Implantat-Herstellers.

Eva Kohl

Hinter einer aufgelassenen Kleingartensiedlung ragt in der Ferne ein Kran weit in die Wolken. Davor, in Haufen sortiert, warten die im Aushub geborgenen Altstoffe auf den Abtransport. Trotz der großen Maschinen ist es am späten Nachmittag auf der Großbaustelle erstaunlich ruhig. Nur alle paar Minuten brummt der Motor eines Lastwagens, der die schmale Zufahrtsstraße entlangrollt. „Vorsicht vor den LKWs!“, warnt auch Ing. Markus Friedl. Er arbeitet hier in der Baustellenleitung. Die LKWs sollte man hören, um rechtzeitig ausweichen zu können; auch dann, wenn ein LKW von hinten kommt.

Mit der Störschallunterdrückung seines ABI-Audioprozessors hat Markus Friedl auch Vorteile an seinem lauten Arbeitsplatz. ©Adobe Stock

Rund fünfzig Meter hinter der Baustelle kommt man zum Container der Bauleitung. Dort liegen auch Friedls Büro und daneben der Besprechungsraum mit den Bauplänen. „Ich bin in einem Beruf, in dem es wichtig ist, andere zu verstehen“, erklärt er. „Hier bei den Besprechungen und draußen auf der Baustelle.“ Doch vor 15 Jahren hat er sein Hörvermögen eingebüßt. Links ist er vollständig ertaubt, auf der anderen Seite verfügt er nur noch über Hörreste. „Ohne Hörgerät höre ich auch rechts fast nichts. Keine Kaffeemaschine. Keine Klospülung.“

Beidseitige Akustikusneurinome raubten dem Niederösterreicher sein Hörvermögen. Doch ein Cochlea Implantat schien für ihn nicht erfolgversprechend. Seit Dezember 2021 hört der 42-jährige Bauingenieur stattdessen mittels Hirnstammimplantat, kurz: ABI. Dieses Implantat ähnelt in der Funktion zwar einem Cochlea Implantat, in der speziellen Bauform ABI kommt es aber nur selten zum Einsatz; selten auch die Krankheit Neurofibromatose, welche die Neurinome und die Ertaubung bei dem ABI-Nutzer verursachte.

Neurofibromatose, eine seltene Erkrankung

Begonnen hat alles mit einem Hörsturz auf der rechten Seite, als Friedl 28 Jahre alt war. „Der wurde erst auch als Hörsturz behandelt. Dass dann auch noch ein MRT gemacht wurde, war purer Zufall.“ Entdeckt wurden gutartige Tumore auf den Hörnerven beider Seiten. Die Ärzte diagnostizierten Zentrale Neurofibromatose.

Neurofibromatose, kurz: NF, ist eine Genveränderung, die in etwa der Hälfte der Fälle vererbt ist. In der anderen Hälfte der Fälle ist die Veränderung „erworben“, auch „spontan“ genannt: Das verantwortliche Chromosom ist während der embryonalen Entwicklung mutiert. 1882 erstmals vom deutschen Arzt Friedrich Daniel von Recklinghausen beschrieben, gehört NF zu den sogenannten „seltenen Erkrankungen“. Das sind Erkrankungen, die entweder lebensbedrohend oder chronisch sind und von denen maximal 5 von 10.000 Menschen betroffen sind.

Fachleute unterscheiden drei Typen der Neurofibromatose: NF1, NF2 und Schwannomatose. Bei jeder dieser Erkrankungen ist ein anderes Gen betroffen. Allen dreien gemein ist die Neigung zur Ausbildung von Tumoren am Nervensystem.

Zentrale Neurofibromatose schädigt häufig den Hörsinn

NF2, auch: Zentrale Neurofibromatose, kommt besonders selten vor: einer von 35.000 Menschen ist betroffen. NF2 ist durch das Auftreten gutartiger Tumore des Nervenscheidegewebes – sogenannte Schwannome – charakterisiert. Das kann unterschiedliche Nerven betreffen, auch das Sehvermögen kann beeinträchtigt werden; typische Begleiterscheinungen sind Kopfschmerzen und Übelkeit. Im Vordergrund stehen bei NF2-Betroffenen aber gutartige Tumore am achten Hirnnerv, der für das Hören und das Gleichgewicht zuständig ist. Diese Vestibular-Schwannome – oder Akustikusneurinome, wie sie auch genannt werden – können beidseits und auch wiederholt auftreten.

Manchmal genügt bei einem solchen Akustikusneurinom, es zu beobachten. Wenn es aber Druck auf den Nerv oder das umgebende Gewebe ausübt, kann das unterschiedliche Beschwerden verursachen. Dann muss der Tumor entfernt werden.

So auch 2008 bei Friedl. „Meine ganze Familie war nervös.“ Bei dieser Operation wird immerhin an jenem Nerv operiert, der Hören, Gleichgewicht und Mimik steuert. „Aber ich hatte keine Angst. Die Chirurginnen und Chirurgen, die so eine Operation durchführen, sind ja absolute Spezialisten.“ Rechts konnte der HNO-Chirurg damals sogar einen Hörrest erhalten, links war das nicht mehr möglich: „Nur mit Konzentration kann ich mich mit Hörgerät am rechten Ohr in ruhiger Umgebung verständigen.“

Zurück zum beidseitigen Hören

Bauingenieur Markus Friedl: mit seinem Hirnstammimplantat am Arbeitsplatz ©Eva Kohl

Vor rund fünf Jahren entwickelte sich bei dem Niederösterreicher ein neues Neurinom am rechten Ohr – an jenem Ohr, das für ihn zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit war, um zu hören. Er sorgte sich, dass die Entfernung des Tumors notwendig werden könnte und er dabei auch den letzten Hörrest verlieren könnte. „Das war der Punkt, als ich mich zu informieren begonnen habe, was es für mein linkes Ohr gibt.“

Auch bei einseitiger Taubheit raten SpezialistInnen den Betroffenen heute meist zur Hörimplantation. Das gilt besonders bei NF2-PatientInnen, da ja weiter ein erhöhtes Risiko für weitere Neurinome besteht. Auch bei Markus Friedl, als der sich an die Wiener HNO-Universitätsklinik AKH wandte. Dort diskutierte Prof. Dr. Christoph Arnoldner mit dem Patienten die verschiedenen Möglichkeiten der Implantation. Da Friedls linker Hörnerv nicht nur vom Tumor vorbelastet war, sondern auch lange Jahre inaktiv, entschied Friedl sich gleich zu einem Hirnstammimplantat.

Auch wenn der Hörnerv nicht arbeitet: Den Hörsinn kann man zurückgewinnen!

Der Hörsinn ist das erste und bisher einzige menschliche Sinnesorgan, das künstlich nachgebildet und ersetzt werden kann. Die Cochlea Implantation, erstmals 1977 in Wien durchgeführt, ist heute eine Routineoperation. Sie wird auch bei einseitiger Taubheit und bei Resthörigkeit erfolgreich eingesetzt wird. Voraussetzung dafür ist aber die Funktion des Hörnervs. Ging diese zum Beispiel durch einen Tumor oder eine Operation verloren, bleibt die Möglichkeit eines Hirnstammimplantats, auch Auditory Brainstem Implant – kurz: ABI genannt. Audioprozessor und Implantat ähneln dabei jenen bei einem konventionellen Cochlea Implantat. Die Elektrode ist beim ABI aber flächig ausgeführt und wird direkt am Hirnstamm platziert. Von dort stimuliert sie die Hörregionen im Kortex.

Vor 20 Jahren wurde das MED-EL ABI für erwachsene NF2-PatientInnen eingeführt. Prof. Dr. Robert Behr, früherer Leiter der Abteilung für Neurochirurgie an der Universitätsklinik Fulda und einer der führenden ABI-Spezialisten weltweit, erinnert sich: „In den Anfangszeiten glaubte man, dass das ABI nur eine ergänzende Unterstützung beim Lippenlesen sein würde. An ein offenes Sprachverständnis oder an freie Kommunikation glaubte man nicht.“ Nach über 1.000 ABI-Implantationen weltweit hat sich diese Einschätzung verändert. „Die ABI-Technologie, sowie die Operationsmethoden haben sich in den vergangenen 20 Jahren ständig weiterentwickelt, sodass unsere Nutzer und Nutzerinnen damit immer besser hören“, erklärt MED-EL Gründerin und CEO Dr Ingeborg Hochmair. Heute führen viele ABI-NutzerInnen ein unabhängiges Leben in der hörenden Welt.

„Wenn die Batterien im Prozessor leer sind, geht mir das Implantat ab!“

Das SYNCHRONY ABI Hirnstammimplantat von MED-EL ©MED-EL

Nüchterne Fakten über eine Behandlungsmethode sind das eine, die individuelle Entscheidung zu einer Implantation etwas anderes. Für Friedl trotzdem eine klare Sache: „Mit der Tumorentfernung hatte ich schon Erfahrung mit anspruchsvollen Operationen. Und ich habe mir gedacht, schlechter kann mein Hören ja nicht werden.“ Bei der Operation sollten auch zwei neue Tumore am linken Nerv entfernt werden. „Diese Entfernung hat mir mehr Sorgen bereitet als die Implantation. Und so eine ABI-Implantation ist ja etwas Seltenes. Da sind sicher die besten Spezialistinnen und Spezialisten der Chirurgie interessiert, das selbst zu machen.“ Mit einem verschmitzten Lächeln fügt er hinzu: „Ein Koch lässt ja auch nicht den Lehrling an den Festbraten ran…“

Bei Friedl leitete der Neurochirurg Univ. Prof. Dr. Christian Matula, Vorstand der Schädelbasis-Ambulanz an der Wiener Universitätsklinik, die Operation. Aus HNO-Sicht wurde sie von Prof. Dr. Christoph Arnoldner betreut. Der frisch Operierte durfte schon nach wenigen Tagen die Klinik verlassen und fühlte sich bald auch wieder fit.

„Die Zeit danach war trotzdem spannend. Der Hirnstamm“, wo die flächige Elektrode des ABI aufgelegt wurde, „hat ja keine Markierung, wo steht: Da musst du den Stecker reinstecken.“ Die tonale Anordnung ist am Hirnstamm nicht so präzise erkennbar wie im Innenohr. Deswegen kann die Hörgewöhnung mit dem ABI etwas länger dauern, als das typischerweise bei einem konventionellen CI heute der Fall wäre. „Ich hab‘ es ja nicht eilig“, sieht es Friedl gelassen. „Und wenn die Batterien leer sind, geht mir das Implantat schon jetzt sehr ab. Für mich ein klares Zeichen, dass es mir beim Hören schon einiges bringt.“

Wer von einem ABI profitieren kann

Die Forschung auf dem Gebiet der Hirnstammimplantation geht intensiv weiter. MED-EL nennt auf seiner Webseite nicht nur Zerebrale Neurofibromatose als mögliche Indikation. Ein ABI kann auch bei Betroffenen helfen, die aus anderer Ursache ertaubt sind, wenn dabei auch der Hörnerv oder dessen Funktion geschädigt wurde: andere Tumore zum Beispiel, besonders weitreichende Ossifikationen oder ein Schädeltrauma. Seit 2017 können auch Kinder ab 12 Monaten vom ABI profitieren, wenn diese ohne funktionsfähigen Hörnerv geboren wurden.

So wie Markus Friedl von seinem Hörimplantat profitiert: „Bei manchen Besprechungen ist das Verstehen schon noch schwer. Und ich höre mit meinen beiden Hörsystemen auch den Wind pfeifen“, gesteht er. Doch dann erzählt der Bauingenieur lachend von der wirkungsvollen Störschallunterdrückung im Audioprozessor: „Wenn es auf der Baustelle wirklich laut ist, tu ich mir manchmal sogar leichter als meine normalhörenden Kollegen. Ohne dieses Implantat könnte ich meinen Job heute jedenfalls nicht mehr ausüben.

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