Podiumsgespräch der jungen CI-NutzerInnen beim Symposium der EURO-CIU
Beim Symposium der EURO-CIU 2024 in Wien gewährten sechs Jugendliche und junge Erwachsene Einblick in ihren Alltag mit CI. Möglichst früh implantiert und gut unterstützt, leben sie ein voll inkludiertes Leben – wie normalhörende Gleichaltrige – und machen akademische Karrieren!
Im Vortragssaal des Novotel am Wiener Hauptbahnhof ist es so leise, dass man den Atem der SitznachbarInnen hören kann. Dann frenetischer Applaus. Er gilt den sechs jungen Leuten am Podium, die einen Einblick in ihr Leben und ihre Gefühlswelt gegeben haben.
In früheren Jahren haben neben den älteren Semestern der europäischen CI-NutzerInnen einige CI-Eltern die Veranstaltungen der Europäischen Dachgesellschaft der CI-Selbsthilfegruppen EURO-CIU beherrscht. Die implantierten Kinder von damals sind aber mittlerweile junge Erwachsene oder an der Schwelle dazu. Deswegen wuchs in letzter Zeit der Wunsch, bei den Treffen auch diese neue Generation der CI-NutzerInnen selbst zu Wort kommen zu lassen.
KeineR, den oder die wir als Gastgeber dazu eingeladen haben, hat uns abgesagt! Auch sprachlich waren die jungen Leute sehr flexibel: Für einige davon ist Englisch auch nicht die einzige Fremdsprache, die sie beherrschen – und sie plaudern teilweise so flüssig, dass Schriftdolmetsch-System und Übersetzung nur schwer mitkommen.
Wer sind unseren neuen Shooting-Stars der europäischen CI-Scene?
Die Gesprächsrunde wird vom Zwillingspaar Alexander und Matthias Pusker, beide 24 Jahre jung, moderiert. Matthias studiert Medizin, Bruder Alexander Jus. CI-Nutzer sind die beiden Niederösterreicher, seit sie 12 beziehungsweise 15 Monate alt waren. Das zweite Implantat folgte jeweils kurze Zeit später. Als „ziemlich normal“ beschreibt auch die Wienerin Mariella Sturz ihre Hörsituation. Auch sie wurde schon im zweiten Lebensjahr implantiert, das CI auf der zweiten Seite bekam sie mit beinahe drei Jahren. Heute führt die 27-Jährige zwei Master-Titel und arbeitet als Juristin im Bundesministerium.
Die Niederösterreicherin Melanie Fraisl und die Italienerin Vittoria Bianchi gehen noch zur Schule. Die 17-jährige Melanie ist von Geburt an taub und wurde mit knapp einem Jahr Cochlea-implantiert; die wenig jüngere Vittoria erst vor fünf Jahren, nachdem ihre Hörgeräte nicht mehr stark genug waren. Erst mit fünf Jahren erhielt der heute 26-jährige Nicolas Baiverlin aus Belgien sein erstes Implantat, auf der zweiten Seite fünf Jahre später. Sie alle hantieren gekonnt mit dem Mikrofon und blicken selbstbewusst ins Publikum: Nicola und Melanie haben schon Podiumserfahrung vom letzten EURO-CIU Workshop in Valencia, die anderen zum Teil vom Theaterspiel oder von anderen Veranstaltungen.
“Ich spreche viele Sprachen!“ – Schule mit CI
Schwerhörigenschule oder Sonderschule sind für CI-Kinder – wenn nicht in Folge weiterer Beeinträchtigungen – nicht zwingend nötig, im Gegensatz zur teilweise vertretenen Meinung. So erzählt Melanie, dass sie seinerzeit an die Sonderschule verwiesen wurde. Sie verdanke es dem Einsatz ihrer Eltern, dass sie doch einen Platz an einer Regelschule finden konnte und sich nun gerade auf die Matura vorbereitet. “Weißt du, ich kann ja sehen, ich kann normal sprechen, ich kann fragen. Ich spreche Italienisch, Englisch, Spanisch, ein bisschen Französisch und Deutsch“, pflichtet ihr Vittoria bei. Zusatzlehrkraft und FM-Systeme, vor allem beim Fremdsprachenunterricht, wurden und werden von den meisten doch gern genutzt. Oder – wie bei Nicolas – therapeutische Unterstützung, mit der er auch den Schulstoff nochmals durchging.
Mariella hatte nie FM-Systeme, auch in der Schulzeit nicht: “Ich wollte lieber irgendwo in der Mitte der Klasse sitzen. So konnte ich den Lehrkräften zuhören, aber auch den Diskussionen und Gesprächen meiner MitschülerInnen im Hintergrund. Ich wollte immer allen Gesprächen folgen können, auch den nicht so wichtigen.” Sie betont auch die Unterstützung nicht nur von Lehrkräften und Familie, sondern auch von ihren Freunden: „Speziell beim Jus-Studium! Wir haben die Mitschriften verglichen, damit ich sicher nichts versäume.“
Volle Inklusion im Alltag, Solidargruppe bei CIA & Co
Gute Freunde sind gerade für Jugendliche besonders wichtig. Freunde, die wie bei Mariella helfen, und Freunde, mit denen sie sich messen können. Alex und Matthias hatten einander, und auch Vittorias Schwester ist – wie sie – hörbeeinträchtigt, auch wenn sie im Gegensatz zu Vittoria auch mit Hörgeräten gut zurechtkommt. Doch was, wenn ein CI-Kind die einzige hörbeeinträchtigte Person in der Familie ist? „Ich wuchs in einer auditiv ausgerichteten Umgebung auf. Ich habe keine CI-Nutzer in meiner Familie oder unter meinen engen Freunden“, erzählt Mariella. Nicolas sagt: “Meine Eltern bemühen sich, deutlich mit mir zu sprechen; meine hörenden Freunde nicht so.“
Melanie erzählt von einem Schulprojekt, bei dem sie einen gehörlosen Schüler in England kennenlernte. Doch abgesehen davon pflegten und pflegen alle GesprächsteilnehmerInnen Kontakte, die sie in Selbsthilfegruppen kennengelernt haben. Mariella schätzt jedenfalls die Anbindung an die internationale Community: „Meine Höreinschränkung ist die Folge einer genetischen Erkrankung namens Usher Syndrom, die zu einer kombinierten Einschränkung des Hörens und des Sehens führt. Ich kenne viele Betroffene weltweit, die in einer ähnlichen Situation und auch in meinem Alter sind. Es ist interessant und macht Freude, sie zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen und zu sehen, wie sie den Herausforderungen begegnen.“
„Einfach auch den eigenen Träumen folgen!“
„Die bisher größte Herausforderung meines bisherigen Lebens war es, 22 Jahre lang mit meinem Bruder gemeinsam zu leben“, scherzt Alexander und wird dann ernst. „Neben einem einzigartig verständnisvollen Umfeld hat uns vielleicht auch diese Zweisamkeit geholfen, dass wir nie etwas als echtes Problem erlebt haben.“ Damit leitet er die letzte Fragerunde nach Herausforderungen und Lösungsansätzen ein. Vittoria war schon ein Schulkind, als sie ihr erstes Implantat erhielt. „Ich hatte große Angst“, erinnert sie sich an den Tag der Aktivierung als Herausforderung. Mittlerweile ist sie froh darüber: „Diese zwei Implantate helfen mir, mein Hören zu verbessern. Aktuell lerne ich Englisch, ich spreche Italienisch – weil ich aus Italien bin – und ich kann auch recht gut Spanisch sowie etwas Französisch und Deutsch. Jetzt möchte ich noch Türkisch und Arabisch lernen!“
Nicolas gesteht, dass es für ihn schwierig ist, ein Gespräch zu beginnen, wenn er jemanden neu kennenlernt. Und nach dem Schulunterricht oder jetzt nach dem Büro ist er oft müde von der ständigen Anstrengung, sich auf Gespräche zu konzentrieren. Sein Rezept dagegen: „Üben!“ Melanie hatte ab Eintritt in die Pubertät – besonders bei neuen Bekanntschaften – das Gefühl, wegen ihrer Höreinschränkung abgelehnt zu werden. „Wenn ich jetzt ausgehe, dann trage ich offene Haare, damit man die Geräte nicht sieht. Sonst habe ich das Gefühl, ich bekomme nicht einmal die Chance mich vorzustellen.“
„Ich sehe meine größte Herausforderung nicht in meiner Taubheit, sondern im Zusammenhang damit: als ich als Teenager realisierte, dass ich noch mehr Themen zu lösen habe als das Hören, das ja gelöst ist“, erinnert sich Mariella an die Zeit, als bei ihr das Usher Syndrom festgestellt wurde. „Als ich akzeptieren musste, dass ich auch mit einem fortschreitenden Verlust meiner Sehzellen konfrontiert bin; Damals habe ich verstanden, welch positiven Effekt das Cochlea-Implantat auf mein Leben hat, denn damit kann ich das schwindende Sehvermögen kompensieren“, erzählt Mariella. „Wenn ihr mich also nach dem größten Rückschlag oder der größten Herausforderung fragt, dann würde ich sagen: Als ich erkannt habe, dass es weitere Herausforderungen für mich geben wird. Aber mit Motivation und mit einem guten Unterstützungssystem kann ich das schaffen: Familie, Freunde – sie sind für mich wichtig, um Neues zu bewältigen, immer wieder Mut zu finden und einfach auch den eigenen Träumen zu folgen.“ Dann lässt uns Mariella noch an ihrem größten Wunsch teilhaben: „Dass mein verbliebenes Sehvermögen erhalten werden kann, wie einst mein Gehör durch die CIs wiederhergestellt wurde.“
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