ÖGS wird „Zweite lebende Fremdsprache“

„Sprache hat in einer von Globalisierung und sprachlich-kultureller Vielfalt geprägten Welt große Bedeutung für die persönliche Entwicklung und die Wahrnehmung von Bildungs- und Lebenschancen“, so das Bundesgesetz für die Lehrpläne der AHS. Die Österreichische Gebärdensprache ist nun mitgemeint.

„Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt können sich am besten entwickeln, wenn sie auf frühem und kontinuierlichem Sprachenlernen basieren“, formuliert das Gesetzblatt über die AHS-Lehrpläne und zählt auf: Deutsch als Erst- und Zweitsprache, Volksgruppensprachen, Herkunftssprachen von MigrantInnen, lebende Fremdsprachen und die klassischen Sprachen Latein und Altgriechisch.

„Im Fremdsprachenunterricht ist der europäischen Dimension sowie den zunehmenden Mobilitätsanforderungen an die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Gemeinschaft Rechnung zu tragen; die positiven Auswirkungen von Fremdsprachenkenntnissen auf Beschäftigung und Wirtschaftsstandorte sind dabei deutlich zu machen“, verweist das Dokument an anderer Stelle auf internationale Studien- und Berufsmöglichkeiten. Neben Mehrsprachigkeit geht es beim Sprachunterricht aber auch um interkulturelles Lernen.

Die meisten Regelschulen in Österreich führen Englisch als erste Fremdsprache. Das wird auch so bleiben. ÖGS – Österreichische Gebärdensprache – gesellt sich erst an den Oberstufen der Gymnasien, Realgymnasien und Wirtschaftskundlichen Realgymnasien zu jenen Sprachen, welche quasi als zusätzliches sprachliches Plus eine AHS-Ausbildung ergänzen: Latein, Altgriechisch oder eine Zweite lebende Fremdsprache – Französisch, Italienisch, Russisch, Spanisch, Tschechisch, Slowenisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Ungarisch, Kroatisch, Slowakisch, Polnisch, Romanes, gegebenenfalls auch Englisch – oder jetzt eben auch ÖGS.

Österreichische Gebärdensprache auf Matura-Niveau

Zum Sprachangebot, das auf SchülerInnen ab der AHS-Oberstufe wartet und ein sprachliches Plus einer AHS-Ausbildung bedeutet, gesellt sich nun ÖGS – Österreichische Gebärdensprache dazu. ©Adobe Stock

Melanie Fraisl besucht die Oberstufe der Höheren Lehranstalt für Sozialmanagement, kurz: HLS, in Langenlois, mit Maturaabschluss. Dort wird Englisch als erste und Französisch als zweite Fremdsprache unterrichtet. Ihr Können in Englisch hat die junge CI-Nutzerin im Rahmen einer Podiumsdiskussion beim Symposium der EURO-CIU 2024 unter Beweis gestellt. Bei der zweiten Fremdsprache kam es anders, erzählt ihr Vater, DI Markus Fraisl, MSc: „Inklusion geht an dieser Schule so weit, dass die Schulleitung auch Möglichkeit für abweichende Lehrpläne schafft. Und die zweite Fremdsprache ist ja auch im Kontext mit einer späteren, beruflichen Verwendung zu sehen: Französisch wird Melanie im weiteren Berufsleben voraussichtlich weniger brauchen als ÖGS.“ Melanie lernt gemeinsam mit einer hörbeeinträchtigten Mitschülerin aus einer höheren Klasse als zweite Fremdsprache ÖGS. Schularbeit hat sie dabei keine, aber geprüft werde schon, erzählt Melanie: „Über einen Dialog zu bestimmten Themengebieten erfolgt die Feststellung der Fähigkeiten ähnlich einer mündlichen Prüfung.“

An vielen Schulen können SchülerInnen ihre Zweite lebende Fremdsprache auch regulär aus mehreren Sprachangeboten wählen. An der AHS kann dabei seit diesem Schuljahr auch ohne speziellen Antrag ÖGS mit angeboten werden – je nach Vorkenntnissen der SchülerInnen in zwei Leistungsgruppen. Am sonstigen Unterricht und auch Pausengespräch in deutscher Lautsprache ändert das an diesen Schulen auch für die betroffenen SchülerInnen nichts.

Bildung durch Sprachfächer und Sprachübungen

Viele Schulen bieten neben den verbindlichen Sprachfächern weitere Sprachen als Wahlfach, Freifach oder Unverbindliche Übung an. Regulär war ÖGS bisher auf Freifach oder Unverbindliche Übung begrenzt. Wenn SchülerInnen sie freiwillig wählen, kommen die Stunden zusätzlich zum Pflichtunterricht hinzu. Schulfächer – auch Freifächer – werden im Gegensatz zu Übungen benotet, doch selbst eine negative Beurteilung in einem Freifach hätte keine Konsequenzen.

Neu ist ÖGS als Wahlpflichtfach oder Zweite lebende Fremdsprache, je nach AHS-Typus. Beides ist verpflichtender Unterricht, den die SchülerInnen positiv abschließen müssen.

  • Bei Wahlpflichtfächern können SchülerInnen der Oberstufe je nach Schultyp Unterrichtsfächer für vier bis zehn Wochenstunden – aufgeteilt auf drei Jahre – auswählen, und das aus einem vorgegebenen, aber vielfältigen Angebot.
  • Bei einer Zweiten lebenden Fremdsprache hingegen kann zwar oft auch gewählt werden, aber nur aus einem Angebot unterschiedlicher Sprachen. Die Zweite lebende Fremdsprache wird während aller vier Jahre der Oberstufe erlernt und ist daher auch als Maturafach möglich.

Schreib- und Lesekompetenz bei ÖGS

Für frühversorgte CI-Kinder, die Lautsprache meist wie normalhörende Kinder entwickeln, stellt ÖGS – wie für normalhörende Kinder – eine Fremdsprache dar. ©Adobe Stock

„Der Unterrichtsgegenstand ÖGS soll einerseits für gehörlose und hörbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler ein geregeltes sowie gesteuertes Sprachenlernen sicherstellen und andererseits hörenden Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bieten, ÖGS als Sprache (neu) zu erlernen“, so die Verordnung des Ministeriums. Für Kinder in der AHS-Inklusion, die in ÖGS kommunizieren, ist ÖGS-Unterricht also als jene sprachliche Vertiefung gemeint, die der Deutschunterricht für normalhörende Kinder bieten soll. Als CI-Verein merken wir aber an, dass frühversorgte Kinder mit Cochlea-Implantat Lautsprache meist wie normalhörende Kinder entwickeln. Der „geregelte Spracherwerb“ ist für sie also mit dem Deutsch- oder muttersprachlichen Unterricht gesichert, während ÖGS für sie – wie für normalhörende Kinder – eine Fremdsprache darstellt.

Seit 1. September 2005 ist ÖGS in Österreich als nicht-ethnische Minderheitensprache anerkannt. Für den ÖGS-Unterricht in einem benoteten Schulfach bezieht sich das Ministerium auf die „Adaption für Gebärdensprachen im Rahmen von PRO-Sign, dem European Centre for Modern Language“: Die bei Fremdsprachen geforderte mündliche Sprachkompetenz heißt bei der ÖGS „Sehverstehen“, „zusammenhängend gebärden“ und „Kompetenz im Dialog“. Bei anderen Sprachen sind auch schriftliche Sprachkompetenzen wichtig. Da es keine anerkannte Verschriftlichung der ÖGS gibt, sind stattdessen „mediales Sehverstehen“ und „medial gebärden“ gefragt.

ÖGS soll auch kulturelle Besonderheiten aufzeigen

Beim schulischen Unterricht der historischen Sprachen Latein und Griechisch nützt man Mythen, Philosophen und Chronisten, um die Lernenden in die europäische Geisteswelt einzuführen. Im Fremdsprachenunterricht wird neben sprachlichen Kompetenzen auch Geschichte und Geografie sowie die Kultur jener Länder und Ethnien vermittelt, welche die jeweilige Sprache zur Alltagssprache haben. „Sozialen Kompetenzen in multikulturellen Umgebungen ist dabei besonderes Augenmerk zu widmen“, fordert der Lehrplan. Äquivalent soll der ÖGS-Unterricht Einblicke in Gesellschaft, Politik und Kultur der Gebärdensprachgemeinschaft gewähren. Der Gesetzgeber formuliert dazu: „Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Kultur der Gehörlosen und der Kultur der Hörenden in Österreich sollen bewusst werden.“

Wie für andere Fremdsprachen sind auch für ÖGS muttersprachliche Fremdsprachen-AssistentInnen im schulischen Alltag vorgesehen sowie Begegnungen mit Gebärdensprachgemeinschaften. Es könnten dann also an der AHS nicht nur Lehrstellen für Gebärdensprache offen werden, auch erstsprachlich ÖGS-kompetente AssistentInnen könnten gesucht entstehen: Für AssistentInnen-Stellen werden meist Studierende verpflichtet, in diesem Fall könnten das vielleicht taub geborene oder als Kind gehörloser Eltern geborene Studierende sein?

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