Die österreichisch-schweizerische Pädagogin Susann Schmid-Giovannini zur Schwerhörigenpädagogik in der Nachkriegszeit.
Susann Schmid-Giovannini wurde 1928 in Wien geboren. Nach dem Krieg wurde sie Grundschullehrerin und startete ihre Berufslaufbahn an der Schule jener Institution in Wien-Speising, die man damals Taubstummenanstalt nannte.
Wie war die Situation tauber Kinder damals in Wien?
Vor der Hitlerzeit war Wien ein Vorbild gewesen. Der Wiener Ohrenarzt Victor Urbantschitsch hatte an der damaligen Taubstummenanstalt in Döbling das Hörtraining durchgeführt. Man hatte die Lautsprache gepflegt. Urbantschitsch hatte beachtenswerte Erfolge erzielt – die erste Schwerhörigenschule war die Folge.
Als ich an diese Schule in Speising kam, hatte sich die Situation geändert. Denken Sie daran, dass kurz davor, in der Hitlerzeit, hörgeschädigte Kinder oder Erwachsene zwar nicht an “Lungenentzündung” starben, aber auch nicht als vollwertige Menschen anerkannt waren. Wir schrieben erst das Jahr 1947!
Früherfassung gab es noch nicht. Manche Kinder kamen erst mit acht Jahren. Die Kinder wurden teils lautsprachlich, teils mittels Gebärden unterrichtet. Doch die Klassen hatten unterschiedliche Gebärden und sogar die Schüler entwickelten ihre individuellen Gebärden.
Die Kinder kamen aus Wien, aber auch damals schon aus Niederösterreich und dem Burgenland. Daher gab es schon ab dem Kindergarten ein Internat, aus dem die Kinder nur zu Weihnachten und in den Sommerferien nach Hause durften. Diese Kinder waren oft verängstigt und konnten sich nicht verständigen. Sie hatten keinerlei Sprachbildung, ehe sie in das Institut kamen. Nur wenige konnten zumindest mit ihren Eltern kommunizieren.
Wusste man damals schon, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Sprachentwicklung sind?
Das wusste man und in Holland gab es damals schon Frühberatungsstellen für Eltern hörgeschädigter Kinder. Mein Onkel Adolf Freunthaller war vor der Machtübernahme Hitlers Direktor der Schule in Döbling gewesen. Von ihm lernte ich, dass der frühe Beginn der Betreuung ausschlaggebend für eine gute Entwicklung der Lautsprache ist. Als erfahrener „Taubstummen-Lehrer“, wie man damals sagte, brachte er mir bei, dass ich mit den Kindern in ganzen Sätzen sprechen muss und dass ich die Sprache nicht nach leicht und schwer artikulierbaren Wörtern trennen darf, sondern dass ich Sprache entsprechend den Erlebnissen der Kinder an dieser heranbringen soll. Er riet auch dazu, Gebärden zu vermeiden.
Er war also Verfechter einer rein auditiv-verbalen Förderung?
Die Bezeichnung auditiv-verbal entstand erst, nachdem wir Hörgeräte zur Verfügung hatten. Sie wurde von mir beim ersten internationalen Kongress in Berchtesgaden im Jahr 1989 verbreitet. Bis dahin sprachen wir von Lautsprache und Hörtraining, beides auch schon ohne Hörgeräte.
In Holland, England und Amerika erhielten die Kinder schon viel früher Hörgeräte als bei uns. Ich hatte mit diesen Ländern Verbindung und wurde darum zu einer Pionierin im deutschsprachigen Raum.
1949 wechselten Sie an den neu gegründeten „Sonderkindergarten Schweizer Spende“ im Auer-Welsbach-Park, dem ersten Wiener Projekt der Teilintegration von Kindern mit Behinderung.
Der Kindergarten Schweizer Spende besteht aus sechs Pavillons. In jedem davon wurden Kinder mit verschiedenen Behinderungen betreut. Ein Haus war für sogenannte „normale” Kinder gedacht. Wir sollten vergleichen können, wie behinderte und nicht behinderte Kinder zum Beispiel auf verschiedene Spielsachen reagierten oder sich in verschiedenen Situationen verhielten. Wir waren alle mit Kliniken in Verbindung – am Eingang steht ja: „Den Kindern zu helfen, der Wissenschaft zu dienen, ein Denkmal der Menschlichkeit.“
Die Gruppe für Hörgeschädigte war die erste Hörgeschädigten-Kindergartengruppe, welche nicht an eine Gehörlosenschule angeschlossen war. In der Gruppe wurden 16 bis 18 Kinder betreut. Ich führte die Einzeltherapien durch, eine Kollegin gestaltete den normalen Kindergartenbetrieb.
Der Kindergarten Schweizer Spende besteht heute noch unverändert.
Nach der Heirat 1964 übersiedelten Sie in die Schweiz, wo Sie bis heute mit hörbeeinträchtigten Kindern arbeiten. Wie sehen Sie die Situation taub geborener Kinder heute?
Durch die Hilfe moderner Hörgeräte und Cochlea-Implantate müssen diese Kinder nicht mehr ablesen, also nicht mehr dauernd auf den Mund des Sprechers schauen. Sie können einer Geschichte lauschen, erkennen Geräusche und lernen diese zuzuordnen, ohne dass wir sie darauf aufmerksam machen. Sie entwickeln sich gleich dem hörenden Kind.
Bei früher Anpassung von Hörgeräten oder CI im ersten Lebensjahr können die Kinder die Sprache ganz normal im täglichen Leben über das Ohr erlernen und damit auch ihr Wissen ganz normal entwickeln. Sie sind also bei Eintritt in die Schule den anderen Kindern gleich. Außerdem haben sie keine Schwierigkeiten, sich mit ihren hörenden Kameraden zu unterhalten, schließen mit diesen Freundschaften und wachsen so in das normale integrierte Leben hinein.
Wie sehen Sie die Bestrebungen nach Einzelintegration oder vollständiger Inklusion aller Kinder in die Regelschule, unabhängig ihrer Möglichkeiten zur audio-verbalen Kommunikation?
Ich finde, das ist der falsche Weg zu einer echten Integration. Wenn zum Beispiel ein Gebärdendolmetscher neben dem gehörlosen Kind sitzt, dann ist das keine Integration: Das Kind wird immer ein Außenseiter sein, der vielleicht kurz für alle interessant ist, mit dem man aber am Pausenhof nicht sprechen kann.
In die Regelschule habe ich deswegen Kinder immer nur dann geschickt, wenn sie über eine ausreichende Sprache verfügten, ihr Hören gut nutzten und dem Unterricht ohne Begleitung folgen konnten. Dank des Cochlea-Implantats sind es aber immer mehr Kinder geworden, für die das zutrifft. Daher habe ich unsere Schule hier in Meggen geschlossen.
Sie sind selbst Mutter, sie haben drei taube Kinder in die Familie aufgenommen. Was würden Sie jungen Eltern eines taub geborenen Kindes heute empfehlen?
Sprechen Sie zu Ihrem Kind so, als würde es normal hören, aber achten Sie darauf, dass es spätestens im Alter von zwei Monaten mit Hörgeräten versorgt ist. Zögern Sie nicht, wenn CIs vorgeschlagen werden. Und suchen Sie sich einen Therapeuten, der oder die mit auditiv-verbaler Erziehung vertraut ist. Informieren Sie sich im Internet.
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