Für einige ein Hobby, für andere ein Heilmittel. Musik ist schon seit jeher mehr als ein netter Zeitvertreib. Sei es die Gehirnkapazität zu stärken, soziale Kompetenzen aufzubauen, oder Glückshormone hervorzurufen – Musik ist ein richtiger Allrounder. Kein Wunder also, dass sie heutzutage bereits von zahlreichen Experten als therapeutisches Allheilmittel eingesetzt wird.
Quelle: www.hoerenbewegt.at
Freitagabend in der Wiener Staatsoper: Die Zuschauer lauschen den Klängen von La Traviata. Am liebsten würden sie bei dem bekannten Trinklied Libiamo ne’ lieti calici, dessen Melodie sich wie ein Ohrwurm ins Gehirn brennt, laut mitsingen. Nach der zweieinhalbstündigen Aufführung verlässt das Publikum beglückt das altehrwürdige Gebäude am Ring.
Szenenwechsel: Im Gasometer am anderen Ende von Wien spielt die Band Stahlzeit eine Rammstein-Tribute Show. Sobald die ersten harten Klänge ertönen, kreischen die Fans und singen aus voller Kehle mit. Am Ende des Konzerts gehen auch sie durchgeschwitzt und emotionsgeladen nach Hause.
Musik berührt, Musik therapiert
Warum berührt uns eine bestimmte Art von Musik? Und warum lassen uns andere Klänge wiederum völlig kalt? Ja, rufen sogar Aggressionen hervor? Diese Frage beantworten Musikwissenschaftler mit einem komplexen Zusammenspiel von Hormonen, die der Körper ausschüttet. Musik wirkt direkt auf unser Gehirn. Sie aktiviert das limbische System im Zwischenhirn, wo es bei Musik, die uns gefällt, zu einer vermehrten Ausschüttung des Glückshormons Endorphin kommt. Die Hypophyse reagiert ebenfalls: Schnelle Musik wirkt aktivierend, langsame beruhigend.
Diese unmittelbare Reaktion unseres Körpers auf die nicht steuerbaren Funktionen unseres Körpers macht sich auch die Medizin zunutze. Die Musiktherapie erlebte in den vergangenen Jahren eine starke Aufwertung. Botenstoffe, die durch das Hören von Musik ausgeschüttet werden, beeinflussen unbewusst unsere Vitalparameter. Unsere Lieblingsmusik kann zu einer vermehrten Ausschüttung von Serotonin, Dopamin und Oxytocin führen. Gleichzeitig sinkt das Stresshormon Cortisol. Gut für Schmerzpatienten: Die Aufmerksamkeit verlagert sich vom Schmerz zur Musik. Denn das limbische System im Zwischenhirn ist nicht nur Entstehungsort für Emotionen, sondern auch für Schmerz. Die Musik übertönt buchstäblich den Schmerz.
Zahlreiche Studien belegen die entspannende und beruhigende Wirkung vor, während und nach Operationen. Musik als nichtpharmakologische Behandlung wird vielfältig eingesetzt. Das Spektrum reicht von Parkinson über Demenz, von Schlaganfällen und Autismus bis hin zur Onkologie, Psychiatrie und Geburtshilfe, um nur einige Gebiete zu nennen. In einer 2018 in Indien durchgeführten Studie wurde die Wirkung von Musik auf Kaiserschnittpatientinnen untersucht. Einer Gruppe wurde während der Operation mit Epiduralanästhesie Entspannungsmusik vorgespielt, der Kontrollgruppe nicht. Nach dem Kaiserschnitt klagte die Musikgruppe über deutlich weniger Schmerzen als die Kontrollgruppe. Eine Hörminderung galt übrigens als Ausschlusskriterium bei besagter Studie.
Meine schöne Musik – deine schöne Musik
Doch welche Musik empfinden wir als schön und warum? Ob bei einer Person Klassik oder Heavy Metal Gänsehaut erzeugt oder als Krawall empfunden wird, hängt stark von den individuellen Vorlieben und Gewohnheiten ab. Doch es gilt: was wir kennen, mögen wir. Musik ist eng mit unserer Kultur verwoben. Für westlich gestimmte Ohren klingt Musik aus Vorderasien fremd. Ebenso gilt das natürlich auch umgekehrt. Südostasiaten empfinden die für sie ungewohnte europäische Musik als anstrengend. Doch hört man auch ungewohnte Musik oft genug, beginnt sie allmählich zu gefallen. Denn unser auditives Gedächtnis kann auf alles trainiert werden, auf Mozart ebenso wie auf dissonante Musik.
Musik prägt sich von frühester Kindheit an in unser Gehirn ein. Das Gehör ist immerhin der erste Sinn, der sich beim Fötus entwickelt. Das Innenohr mit den wichtigen Haarzellen ist bereits in der 16. bis 23. Schwangerschaftswoche angelegt.
Musik und Sprache – eine enge Verbindung
In seinem Buch „Vom Neandertal in die Philharmonie – Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann“ erklärt der deutsche Musikwissenschaftler und Mediziner Eckart Altenmüller die Entstehungsgeschichte der Musik. Mit Urlauten wie dem Grunzen, Kreischen oder Ächzen konnten die Menschen vor Entwicklung der Sprache Emotionen ausdrücken. Als sie die Sprache zu ihrem Werkzeug machten, kam die Sprachmelodie hinzu, eine weitere Möglichkeit des Gefühlsausdrucks. Im Laufe der Zeit löste sich diese Melodie von der Sprache. Daraus erklärt sich auch der enge Zusammenhang zwischen Sprache und Musik. Die Sprechmelodie kann die Bedeutung eines Satzes völlig verändern, aus ihr erklärt sich für den Zuhörer, ob es sich um eine Aussage oder eine Frage handelt, sie drückt Emotionen aus. Nach dem Motto „der Ton macht die Musik“ kann ein und derselbe Satz beim Gegenüber freundlich oder aggressiv ankommen.
Für Menschen mit Höreinschränkungen ist die Prosodie, jener Teilbereich der Sprache, der sich mit Betonung, Rhythmus und Intonation, auch Sprechmelodie genannt, befasst, manchmal eine Herausforderung. Sie hören diese prosodischen Elemente mitunter nicht so deutlich. Und sie sprechen daher vielleicht mit monotoner Stimme. Doch die Musik kann einige Verbesserungen bewirken.
Eine kanadische Studie an Kindern mit CI untersuchte die Auswirkungen von Musikunterricht auf das Wahrnehmen von Musik und die emotionale Sprachprosodie. Eine Gruppe der 6-15-jährigen Kinder erhielt sechs Monate lang individuellen Klavierunterricht, während die zweite Gruppe individuellen Kunstunterricht bekam.
Vor, während und nach der Studie wurde getestet, wie gut die Kinder Tonleitern, Tonhöhen, Pausen, Rhythmus und Melodien erkennen konnten. Die Prosodie-Aufgaben bestanden darin, die Emotionen in einem Satz zu erkennen. Bereits während der sechsmonatigen Studienphase zeigte sich, dass sich jene Gruppe, die Einzelunterricht am Klavier nahm, Rhythmus und Melodien besser einprägte. Vor allem aber erkannte sie die emotionalen Absichten in einem Satz besser, konnte also die Satzmelodie genauer wahrnehmen. Bei den Kindern aus der Kunstgruppe fielen die Testergebnisse schlechter aus. Daraus schließen die Studienautoren, dass Musikunterricht das Wahrnehmen von Musik, aber auch
von Gefühlen, die die Sprache vermittelt, fördert und eine ideale Ergänzung zur Rehabilitation nach einer Cochlea-Implantation darstellt.
Diese Erkenntnisse überraschen nicht. Schon viele Jahre lang beschäftigen sich Forscher mit dem Zusammenhang zwischen Musikunterricht und Sprachentwicklung und kommen immer wieder zum gleichen Ergebnis. Aktives Musizieren fördert die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern – dies gilt für normalhörende übrigens ebenso wie für Kinder mit Höreinschränkungen.
Wunderwerk Gehirn
Verantwortlich für diese sprachlich-musikalische Liaison ist unser Gehirn. Dieses enorm leistungsfähige Wunderwerk weist eine hohe Plastizität auf, besonders in jungen Jahren. Das Gehirn verarbeitet in einem Zusammenspiel seiner unterschiedlichen Areale Töne zu Musik.
Prinzipiell gilt: jeder Mensch ist musikalisch und verfügt über ein Grundverständnis für Rhythmus und Tonhöhen. Personen mit absolutem Gehör, also jene, die die Tonhöhe eines beliebigen Tones ohne Bezugston benennen können, haben allerdings nicht nur Glück oder Talent. Diese oft angeborene Fähigkeit bewahren sich häufiger Menschen, die in einer musikalisch aktiven Familie aufwachsen. Kinder, die schon im Kindergartenalter ein Instrument lernen, haben ebenfalls bessere Chancen auf ein absolutes Gehör. Die vollkommene Tonhöhenerkennung ist also nicht nur genetisch bedingt, sondern beruht ebenso auf intensivem Training.
Wie sehr Musik die Plastizität des Gehirns verändert, sieht man bei näherer Betrachtung des Gehirns. Zahlreiche Studien, die die Gehirnstruktur von Musikern mit jener von Nichtmusikern vergleichen, erkennen neuroplastische Unterschiede. Forscher der University of Southern California beobachteten in einer Langzeitstudie die strukturellen Veränderungen des Gehirns bei Schulkindern nach zweijährigem Musikunterricht, die sie bei der nicht musikalisch aktiven Kontrollgruppe nicht erkennen konnten.
Musikalität bei Hörverlust – ein Vorteil?
Musikalität wirkt sich bis ins hohe Alter positiv aus. Auch Musiker sind von Hörverlust betroffen. Doch dank ihrer jahrelangen Erfahrung im exakten Hören kommen sie damit besser zurecht, vor allem, wenn es um das Verstehen von Sprache in lauter Umgebung geht. Die Neurobiologin Nina Kraus von der Northwestern University führt das auf bessere neurale Mechanismen beim Verstehen von Sprache in lauter Umgebung zurück.
Christina Fuller von der Reichsuniversität Groningen in den Niederlanden wollte wissen, ob der „Musikerbonus“ beim besseren Hören in schwierigen Situationen auch auf Cochlea-Implantate umgelegt werden kann. Den „Musikerbonus“ schrieb sie einer genaueren Wahrnehmung von Tonhöhen sowie den insgesamt besseren auditiv-kognitiven Leistungen von musikalisch aktiven Menschen zu. In einem Vergleich zwischen Musikern und Nichtmusikern bei der Durchführung mehrerer schwieriger Höraufgaben schnitten die musikalisch vorgebildeten Testpersonen besser ab.
Für Fuller zeigen die Ergebnisse klar die Vorteile von Musikunterricht vor und idealerweise auch nach der Implantation, besonders beim Erkennen von Tonhöhen und Emotionen in der Sprache sowie beim Musikgenuss.
Musiktherapie und CI
Dass ein gezieltes Musiktraining positive Auswirkungen auf die Klangqualität und Musikwahrnehmung von CI-Nutzern hat, wies auch die Psychologin Elisabeth Hutter von der Universität Heidelberg nach. Die Melodieerkennung klappte nach diesem Training ebenfalls besser. Am Anfang gilt für jedes Musiktraining übrigens: weniger ist mehr. Melodien, die von einigen wenigen Instrumenten gespielt werden, erkennen CI-Nutzer leichter. Auch eignen sich bestimmte Instrumente, nämlich jene mit weniger Timbre oder Klangfarbe, besser als solche mit vielen Obertönen. Daher geben weniger erfahrene CI-Träger der Marimba oft den Vorzug vor dem Klavier.
Wie sehr Nutzer mit ihrem Cochlea-Implantat Musik genießen können, ist individuell verschieden. Vieles hängt, wie oben beschrieben, von den musikalischen Vorkenntnissen ab. Aber auch die Technik spielt eine Rolle: welche Klangkodierungsstrategie wird verwendet? Wie tief konnte die Elektrode in die Cochlea eingeführt werden und erreicht sie auch die innersten Bereiche, in denen die tiefen Töne sitzen? Wie erfolgt die Einstellung der einzelnen Elektroden?
Für den Niederösterreicher Walter Widler, der schon seit früher Kindheit schwerhörig ist und dennoch Geige lernte, war das Musizieren nach seiner Cochlea-Implantation ein Lernprozess. Erst nach vielen Anpass-Sitzungen wagte er sich wieder an sein Instrument. Mittlerweile spielt Walter in mehreren Ensembles mit dem Schwerpunkt internationale Volksmusik. „Gleich nach der Implantation empfand ich Musik nicht als schön. Seit ich ein eigenes Musikprogramm auf meinem Audioprozessor habe, macht mir das Musizieren wieder Spaß und ich spiele fast täglich mehrere Stunden Geige, Gitarre und Saxophon. Es bereitet mir große Freude zu sehen, wie begeistert unser Publikum mitsingt.
Musik verbindet. Egal, ob Oper, Hardrock oder Volksmusik. Die Leidenschaft für Melodien, die gefallen, eint auch Menschen, die sonst keine Gemeinsamkeiten haben. Alt. Jung. Gut hörend. Und sogar gehörlos.