Es ist Sonntagnachmittag. Heute findet ein Treffen statt, ein Wiedersehen. Fünf Familien sehen sich wieder, um sich auszutauschen, zu vernetzen und über alte Zeiten zu reden.
Lisa Dorner
Diese Familien kennen sich bereits seit knapp 25 Jahren, denn sie teilen eine Geschichte: Jede Familie hat mindestens ein Kind, das mit einem Cochlea-Implantat versorgt ist. Während das heutzutage eine Entscheidung ist, die dank vielfältiger Quellen und Erfahrungsberichte leichter zu treffen ist, war es für diese Familien noch ein Schritt ins Ungewisse – In Wien gab es nämlich bis dato wenig bis keine Kinder mit Cochlea-Implantat.
Der Raum ist klein und die Tische stehen in den Ecken. Deshalb beschließen sie, die Möbel zu einem großen Tisch zu verschieben, an dem alle Platz haben. Jeder packt fleißig an und nach wenigen Sekunden sitzen sie alle auf ihren Stühlen. Einige lachen, einige unterhalten sich laut, einige schauen sich nur um. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Jeder kennt sich, niemand ist zurückhaltend oder weiß nicht recht, was er sagen soll. Alle sind entspannt, unter Freunden. Auch die Kinder unterhalten sich, obwohl sie sich teilweise schon länger nicht mehr gesehen haben. Alle wollen wissen, wie es den anderen ergangen ist. Die meisten rücken von Platz zu Platz, um die Gelegenheit zu haben, mit jeder Person zu sprechen. „Wie geht es dir? Was machst du jetzt?“ Alles Fragen, die mehr als einmal gestellt werden. Und alle scheinen sich wirklich zu interessieren, alle kümmern sich um einander.
Jede dieser Familien hat ein anderes Schicksal erlebt, doch gleichzeitig sind ihre Geschichten eng miteinander verbunden. Sie trafen sich erstmals in einem Kindergarten, der auch Frühförderung für hörbeeinträchtigte Kinder anbot. Dort fanden sie nicht nur Informationen für ihren Nachwuchs, sondern auch Unterstützung und eine Umgebung, in der offen geredet werden konnte. „Es gibt Dinge, die kann ich mit niemandem sonst besprechen. Niemand kann es verstehen, der die Situation nicht auch erlebt hat“, sagt Birgitt, eine der Mütter. Sie tauschten sich aus, halfen einander, spendeten Trost in schwierigen Zeiten. Auch, wenn es darum ging, ihre Kinder implantieren zu lassen.
Das erste Kind, das mit einem CI versorgt wurde, war Melina. Die damals 5-jährige war nach einer Gehirnhautentzündung im Alter von 18 Monaten ertaubt. Die Sprachkenntnis, die sie damals schon erworben hatte, entwickelte sich zurück. „Sie bekam Wutanfälle, weil sie nicht verstanden hat und nicht verstanden wurde“, erzählt ihre Mutter Michaela. Damals wusste die Familie nicht, was sie tun konnte, um ihrer Tochter bestmöglich zu helfen. „Das Thema Implantat war schwierig. Alle sagten, ich würde mein Kind durch die Operation nur unnötig quälen, weil es sowieso nicht funktionieren würde.“ Schließlich besuchte ihr Vater Georgios einen Kongress in Linz, bei dem auch ein Mädchen mit einem CI anwesend war. Sie konnte dank des Implantats hören – und schenkte damit der Familie Hoffnung. Trotzdem fiel die Entscheidung nicht leicht und Michaela und Georgios überlegten noch knapp ein Jahr lang, bis sie sich für die Implantation entschieden.
Auch für die Eltern von Florim, Eva und Dino, war der Schritt in Richtung Implantation nicht einfach. Ihr heute 27-jähriger Sohn wurde nicht nur taub geboren, sondern leidet außerdem an einer Mehrfachbeeinträchtigung. Genau deswegen wurde den beiden auch von einer Implantation für Florim abgeraten. Die Befürchtung war, dass er nicht einmal wahrnehmen würde, dass er ein Implantat habe und deswegen die Operation nur ein unnötiges Risiko wäre. Um sich diese These bestätigen zu lassen, wendeten sich Eva und Dino an Dr. Wolf-Dieter Baumgartner, damals junger HNO-Facharzt im Wiener AKH, der schließlich die Worte sagte, die für die Familie alles änderte: „Wäre es mein Kind, dann würde ich es probieren.“ Damit war klar, dass sie es wagen würden. „Ich wusste, wenn wir es jetzt nicht machen, geht es später nicht mehr“, erzählt Eva. Schließlich wurde
der damals 4-Jährige operiert. Entgegen der anfänglichen Zweifel reagierte Florim positiv auf die neuen Implantate. „Man hat richtig gemerkt, dass er die Menschen plötzlich wahrgenommen hat. Er war plötzlich in der Welt“, bestätigt auch Birgitt. Der Pädaudiologe mit psychologischer Ausbildung Dr. Hermann Herka aus der Universitätsklinik Innsbruck verglich Florim mit einem Haus, bei dem alle Fenster geschlossen waren. Durch die Implantation seien ein paar Türen geöffnet worden. Eva erinnert sich noch genau an die Erstanpassung, bei der auch Ewald Thurner als Techniker und Chirurg Wolf-Dieter Baumgartner mit dabei waren: „Florim hat gelacht, und wir alle haben geweint.“ Seitdem profitiere Florim sehr von seinem Gehör, er liebe Musik und hätte das ohne Implantation nie für sich entdecken können. Als zusätzliche Unterstützung nutzt die Familie Gebärdensprache. Für Florim sei die Gebärde ein Begleitmechanismus, um die Sprache zu verstehen. „Es ergänzt sich wunderbar“, betont Dino.
Auch Hannah musste mit Problemen neben ihrer Gehörlosigkeit kämpfen. Bei ihr wurde Osteopetrose festgestellt, eine seltene Erkrankung, bei der sich das Knochengewebe zunehmend verdickt. Zudem merkten ihre Eltern im Alter von sechs Wochen, dass ihre Tochter nicht hören konnte. Nach einem erfolglosen Versuch, ihr mit einem Hörgerät zu helfen, begannen sie sich nach anderen Alternativen zu erkundigen. Schließlich entschieden sich Andreas und Elke ihre Tochter im Alter von zweieinhalb Jahren von Dr. Wolfgang Gstöttner im Wiener AKH implantieren zu lassen. „Hannah hat nach der Implantation erst nach einem halben Jahr begonnen zu kommunizieren“, erzählt Elke. Doch im Laufe der Zeit entwickelte sich Hannah zu einem Sprachentalent: „Sie war immer sehr an Worten interessiert und hat gerne gelesen.“ Diese Leidenschaft spiegelte sich auch in ihrer Studienwahl, Germanistik. Jedoch ging es Hannah zunehmend schlechter, sie hatte Gleichgewichtsstörungen und starke Kopfschmerzen, die sie belasteten. Schließlich verstarb Hannah vor zwei Jahren an den Folgen ihrer Krankheit.
Dass das Alter bei der Implantation einen großen Einfluss auf die Sprachentwicklung hat, beweisen vor allem Matthias und Katharina. Insbesondere bei Matthias fällt kaum auf, dass er mit Implantaten versorgt ist. Im Gegensatz zu seiner Schwester wurde er bereits mit zwei Jahren implantiert, Katharina war schon sechseinhalb Jahre alt. Dieser Altersunterschied bei der Implantation hatte starke Auswirkungen auf die Entwicklung der beiden und ist heute noch spürbar. Während Matthias praktisch uneingeschränkt hört und spricht, fühlt sich Katharina in der Gehörlosenwelt wohler. „Sie hat nicht nur gute Erfahrungen gemacht“, erzählt ihre Mutter Barbara. Nach medizinischen Problemen ist Katharina nur noch auf einem Ohr implantiert. Für die 9-jährige Mia sind ihre beiden implantierten Geschwister das normalste auf der Welt. Mia ist normalhörend, hatte aber durch ihre älteren Geschwister bereits ihr Leben lang Kontakt mit implantierten und schwerhörigen Menschen. Sie hatte nie Probleme damit, sich mit Matthias oder Katharina zu verständigen und sieht ihre Implantate einfach als Unterstützung für die beiden.
Auch Max und Emil sind Brüder, die beide gehörlos geboren wurden. Während bei Emil klar war, dass er schon mit neun Monaten implantiert werden würde, fiel Birgitt und Alexander die Entscheidung bei ihrem älteren Sohn Max schwerer. Die Ungewissheit und fehlende Vorbilder schüchterten die jungen Eltern ein. Immer wieder fuhren sie mit Max nach Innsbruck zu Dr. Herka zur Hörgerätekontrolle. Bei einem dieser Besuche fiel dann die Entscheidung. Während einer Therapiestunde klopfte es an der Tür und ein junger Bub kam in den Raum. Dr. Herka rief das Kind zu sich, es war implantiert. „Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und ich konnte es kaum glauben – er hat es verstanden!“, erzählt Birgitt und Tränen steigen ihr in die Augen. „Ich glaube wir alle haben so einen Moment gebraucht, der die Angst nimmt. Max und Emil leben jetzt mit ihren Implantaten uneingeschränkt ein ganz normales Leben.“
Mittlerweile sind die Zeiten der Frühfördergruppe vorbei, die meisten Kinder sind bereits erwachsen. Trotzdem nehmen sich alle gerne die Zeit, sich wieder einmal zu sehen. Die Verbundenheit, die sich vor fast 25 Jahren gebildet hat, besteht nach wie vor. „Wir haben uns alle sehr gebraucht. Wir haben sehr voneinander profitiert, abgesehen davon, dass eine Lebensfreundschaft entstanden ist.“
Anm. d. Red.: Diese Zeilen sind durch Gespräche und Beobachtungen der 19-jährigen Studentin Lisa Dorner entstanden, die durch die Freundschaft der Eltern mit den jungen CI-Nutzern aufgewachsen ist. Für sie als Normalhörende wurde die Hörbeeinträchtigung ihrer Freunde zur Selbstverständlichkeit.