„Warm, satt und sauber – das ist zu wenig!“, fordert Karl Heinz Hierzer, Einrichtungsleiter der Betreuungseinrichtung Lebenswelt in Wallsee. Bei der Konferenz DEAFplus ging es um Lebensqualität und entwicklungsorientierte Betreuung mehrfachbeeinträchtigter Menschen – ein wesentlicher Schlüssel dazu ist die Möglichkeit zur Kommunikation.

Am 28. und 29. März 2019 lud das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz erstmals zur Konferenz DEAFplus ein. Teilnehmer aus 14 Ländern, Therapeuten und Wissenschaftler, CI-Nutzer und Vertreter der Deaf Power nahmen daran teil, freute sich Kongresspräsident Prim. Priv. Doz. Dr. Johannes Fellinger in seiner Begrüßungsrede über die bunte Vielfalt.

Deaf ist das englische Wort für taub. Bei der DEAFplus geht es um die Bedürfnisse und Befindlichkeiten von Menschen, die taub sind, plus zumindest eine weitere Beeinträchtigung aufweisen: Blindheit oder deutliche Einschränkungen des Sehvermögens, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, Angstsyndrom oder Autismus-Spektrum-Störungen, oder andere physische oder intellektuelle Einschränkungen.

An den Lebenswelten, den Betreuungseinrichtungen der Barmherzigen Brüder für mehrfach beeinträchtigte Menschen, seien 20 bis 30 Prozent der Klienten auch von relevanten Hör- und Kommunikationsproblemen betroffen. Hörprobleme seien dort „keine Orchideen-Geschichte“, konstatierte Fellinger, Initiator und Gründer der Lebenswelt. Der amerikanische Entwicklungs- und Verhaltenspädiater Dr. Robert C. Nutt, selbst taub geboren, erklärte, der Begriff DEAF sei insofern groß zu schreiben, als die Taubheit – und die damit verbundenen Hürden in der Kommunikation – in einer solchen Kombination häufig die dominante Beeinträchtigung darstelle.

„Sprache ist ein Motor für Entwicklung“

Die empfundene Beeinträchtigung des täglichen Lebens bestimmt letztlich die Lebensqualität von Menschen. Fellinger, Vorstand des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie in Linz, erklärt den Begriff: „Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist Lebensqualität die subjektive Wahrnehmung über die Stellung im Leben und in dieser Hinsicht in weiten Bereichen individuell und kulturell determiniert.“ Manche Teilaspekte seien aber durchaus kulturunabhängig, wie etwa Schmerzfreiheit.

Eine Untersuchung bei den Klienten der Lebenswelt zeige, dass Lebensgeschichte, Komorbiditäten oder motorische Fähigkeiten für die Lebensqualität nicht ausschlaggebend sind, sondern vielmehr Alltagsfertigkeiten und soziale Fertigkeiten der Betroffenen. In diesem Zusammenhang spielt auch die Möglichkeit zur Kommunikation eine wichtige Rolle.

Priv. Doz. Dr. Daniel Holzinger leitet am Institut für Sinnes- und Sprachneurologie das Zentrum für Kommunikation und Sprache. Wenn er von Sprache spricht, so meint er damit Lautsprache ebenso, wie Gebärde, simultane Kommunikation, alles auch unabhängig von mehr oder weniger korrekter Grammatik. Der klinische Linguist erklärt, dass gerade Sprachverstehen für die psychische Gesundheit ausschlaggebend sei, wichtiger sogar als expressives Sprachvermögen. „Sprache ist ein wirksamer und wichtiger Faktor, um alltägliche und soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Sprache ist ein Motor für andere Aspekte der Entwicklung.

Ein Fenster zur Welt öffnen

„Mehrfachbehinderung und Cochlea-Implantation – das hat sich vor 26 Jahren noch niemand getraut“, doch Eva Mehmeti wollte damals für ihren Sohn Florim die bestmöglichen Voraussetzungen zur Kommunikation schaffen. Von mancher Seite wurde damals von einem CI für Florim abgeraten, denn damals konnte niemand vorhersagen, ob er damit Hörwahrnehmung haben würde. Doch der Psychologe Dr. Hermann Herka aus der Innsbrucker HSS-Klinik ermutigte die Eltern: „Florim ist wie ein Haus, bei dem viele Fenster und Türen zu sind. Mit diesem Implantat können wir ihm ein Fenster öffnen.“

Obwohl man ihnen nach der Implantation davon abriet, haben die Eltern parallel zur Lautsprache immer auch Gebärden eingesetzt und sehr gute Erfahrungen damit gemacht: „Florim hat mit dem CI wahrgenommen, mitunter auch imitiert. Er hatte Freude am Hören. Aber Sprache war vorerst nicht vorhanden.“

Auch heute sei die Auswirkung eines CIs für Betroffene mit neurologischen Auffälligkeiten wissenschaftlich noch nicht vollständig ausgeleuchtet, erklärte Oberarzt Dr. Christoph Balber von den Barmherzigen Schwestern Linz. Noch weniger erfasst sei, wie sich die Implantation der zweiten Seite bei diesen Nutzern auswirke.

Bei Florim Mehmeti hat sich mit dem zweiten Implantat auch Sprachverstehen langsam entwickelt, erzählt seine Mutter. Heute ist Florim in der hörenden Welt ebenso zuhause wie in der Gebärdenwelt.

Jede Möglichkeit nützen!

„Man hat bei einem Kind nicht die Zeit zu warten!“ Mit diesen Worten erklärt Fellinger, warum bei taub geborenen Kindern auch im Fall einer Mehrfachbeeinträchtigung eine frühe Entscheidung für oder gegen eine Implantation wichtig sei. Nach den ersten Lebensjahren sind manche Entwicklungsschritte unwiederbringlich abgeschlossen und können nicht nachgeholt werden. Aber auch die frühe Entscheidung für oder gegen Gebärdensprache sei für die erzielbare Sprachkompetenz wichtig. Aus seiner Sicht müssen die Verantwortlichen letztlich jeden Weg zur Kommunikation nützen.

„Wie groß der Unterschied zwischen einem nur gehörlosen und einem taubblinden Kind ist, das konnte ich am eigenen Leib erleben“, so Frau Oberndorfer, Mutter zweier erwachsener, gehörloser Söhne. Als ihre Söhne geboren wurden, waren CIs für Kinder noch nicht verfügbar. Horst, der jüngere Sohn, wird aufgrund seiner hochgradigen Sehbehinderung als taubblind eingestuft. Bei dem heute 42-Jährigen fühlten sich sowohl die Bildungseinrichtungen für blinde, wie auch jene für taube Kinder überfordert. „Ich bin sehr dankbar, dass ich das Vertrauen in meinen Sohn nie verloren habe.“

Frau Oberndorfer und Entwicklungspädiater Dr. Robert C. Nutt aus den USA © Konventhospital der Barmherzigen Brüder Linz

Wege aus der Isolation

Für behinderte Kinder wird heute meist schulische Inklusion angestrebt. Bei taubblinden Kindern begrenzt sich der Erfahrungsbereich auf den Radius einer Armlänge, legt die Wissenschaftlerin Prof. Dr. Marleen Janssen aus den Niederlanden dar. Deswegen war für Horst Oberndorfer die 1:1-Betreuung in der Schulzeit notwendig.

Aber nicht nur während der Schule, auch im weiteren Leben erstreckt sich für DEAFplus-Betroffene ein Spannungsfeld zwischen Inklusion und speziell abgestimmter Betreuung. Die Gemeinschaft mit anderen Betroffenen wird in der abschließenden Podiumsdiskussion als wichtiges Mittel gegen Isolation eingebracht, vorzugsweise aber die Gemeinschaft in kleinen Einheiten, integriert in ein Mainstream-Umfeld.

Als Horst Oberndorfer in den Siebzigerjahren geboren wurde, gab es noch keine Gebärdenkurse für Eltern gehörloser Kinder. Die Cochlea-Implantation war Kindern damals ebenso verwehrt. Es war ein mühsamer und steiniger Weg in die Kommunikation und in die Gemeinschaft. Heute erfreut sich Horst Oberndorfer seiner Erfolge mit einem CI und er verwendet die Lautsprache, die er aber immer noch üben muss. Potentielle Gesprächspartner beim Lormen, einer Tastsprache für taubblinde Personen, stehen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Seine Mutter erzählt von ihrer Sorge, Sohn Horst könnte ohne Unterstützung seiner Eltern im Alter vereinsamen. Bei den Worten „wenn wir einmal nicht mehr sind…“ schwingt Angst in ihrer Stimme mit.

„Schlüssel suchen ist unser Job!“

Lebensqualität, psychosoziale Gesundheit und Gewaltprävention, Autismus und Taubblindheit – bei der DEAFplus wurden viele Aspekte von Behinderung thematisiert. Fachleute und Angehörige betonten mehrfach, wie wichtig für Betroffene und Angehörige der Erfahrungsaustausch mit anderen Menschen in derselben Situation ist. Aber auch, wie wichtig es ist, das eigene Leben mit den eigenen Besonderheiten in die sogenannte „normale“ Gesellschaft einzubringen und keine Scheu vor Kontakten „nach draußen“ zu haben. Kommunikation ist dabei in weiten Bereichen ein wesentlicher Faktor.

Veranstalter Fellinger fasste abschließend zusammen: „Es ist ein Menschenrecht, dass man sich in Beziehungen entfalten kann.“ Er zeichnete dafür ein Bild: „Ich sehe Menschen bei ihrer Geburt in einem riesigen Raum, der bei manchen offener ist, bei anderen aber versperrt. Dieser Raum ist das Potential Freund zu sein. Bei DEAFplus-Menschen ist dieser Raum – dieses Potential – vielfach versperrt.“ Die Aufgabe von Eltern, Erziehern und Betreuern von DEAFplus-Betroffenen sei die Suche nach dem passenden Schlüssel, um diese versperrten Türen zu öffnen: „Schlüssel suchen ist unser Job.“

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