Am Anfang der griechischen – und damit der europäischen – Literatur steht ein Name: Homer, der früheste Dichter des Abendlandes. Er gilt als Autor der beiden ersten Epen der Weltliteratur, der Ilias und der Odyssee.

Birgitt Valenta, Specialist, Marketing Project Management, MED-EL Wien

Der griechische Dichter lebte im 8. Jahrhundert v. Chr. im ionischen Kleinasien. Lange als fiktive Persönlichkeit angesehen, gilt er heute wieder als historische Person, deren Bild durch die Legende mit den Zügen des wandernden Rhapsoden ausgestattet wurde.

Während trotzdem noch immer viel diskutiert wird, ob es Homer überhaupt gab – weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt – ist die unermessliche, bis heute andauernde Wirkung Homers, der schon in der Antike als der Dichter schlechthin galt, unbestritten.

Homer und seine Werke

Die Qualität seiner Werke bewahrte Homer davor, in Vergessenheit zu geraten, das Alter seiner Werke aber machte ihn zum Lehrer des antiken Griechenlands (und damit auch Roms). Die Vielzahl der Themen, die in Homers Werken – teilweise ganz nebenbei – behandelt und beschrieben wurden, erweckte den Eindruck, „ … dass Homer, dieser überaus kundige Mann, so ziemlich über alle menschlichen Belange etwas geschrieben hat.“ (Xenophon: Symposion 4,6). Immer wieder kann man bei Platon, Xenophon und anderen Philosophen lesen: „Das hast du wohl von Homer gelernt“.

Dies alles machte Homer zum wichtigsten und bekanntesten Dichter – nicht nur im Altertum. Auch in den heutigen „Ewigen-Besten“-Listen der Literatur und „Was man gelesen haben sollte“ rangieren Homers Werke Ilias und Odyssee stets an den vordersten Plätzen. Sie sind die ersten großen Schriftzeugnisse der griechischen Geschichte: Mit ihnen beginnt nach klassischer Ansicht die europäische Kultur- und Geistesgeschichte. Ob die beiden Werke, etwa um 750 bzw. 700 v.Chr., von ein und demselben Dichter stammen, darüber stritten bereits alexandrinische Gelehrte. Die modernen Theorien glauben an einen Dichter, der am Ende einer langen mündlichen Überlieferung eine schriftliche Fassung der Epen hinterlassen hat:

Liebe, Leidenschaft, Groll – die Ilias

Die bereits durch ihren Umfang von 15.500 Hexameterversen, die in 24 Gesänge aufgeteilt sind, beeindruckende Ilias wurde nach herrschender Meinung etwa um 750 v. Chr. geschrieben und thematisiert den zehnjährigen Krieg um die Stadt Troja, die bei Homer „Ilion“ genannt wird.

Erzählt wird eine dramatische Geschichte, in der sich nicht nur Menschen gegenüberstehen, sondern auch unterschiedlich Partei ergreifende Götter, die mit gleicher Leidenschaft in den Kampf ziehen. Die Ilias ist ein Sammelsurium elementarer menschlicher Gefühle und Eigenschaften wie Liebe, Ehre, Eigennutz, Verschlagenheit, Tapferkeit und vor allem Zorn. Zeitlich umfasst die Ilias hauptsächlich 51 Tage des jahrzehntlangen Krieges zwischen den Griechen (Achaier) und den Trojanern. Auslöser des Krieges war die Entführung von Helena, der schönen Schwägerin des mykenischen Königs Agamemnon, durch den Trojaner-Prinzen Paris. Die Weigerung von Paris´ Vater Priamos, König von Troja, den Brautraub rückgängig zu machen, führte zu einer allgriechischen Koalition gegen Troja. Nicht zuletzt wegen des Eingreifens der Götter bleibt das Ringen lange unentschieden. Neben Agamemnon und dessen gehörntem Bruder Menelaos treten eine große Anzahl von weiteren bekannten Figuren bei dem dramatischen Geschehen am Ende des Trojanischen Krieges auf. Herausragende Bedeutung auf griechischer Seite kommt dem Superhelden Achilles zu, der sich wegen einer Ehrverletzung durch Agamemnon zeitweise aus dem Kampf zurückzieht. Fast ebenbürtig als Krieger ist Ajax. Wichtig ist auch der listenreiche, phasenweise zwielichtig wirkende Ithaka-König Odysseus. Auf trojanischer Seite sticht vor allem der heldische Bruder des Paris Hektor heraus. Ferner ist auch der Trojaner Aeneas, den die Römer später als ihren Stammvater für sich reklamierten, zu nennen.

Homer überliefert uns die sagenhafte Geschichte eines Krieges, in dem eine schöne Frau, Helden und Götter die Hauptrollen spielen. In der Illias informiert er uns jedoch noch nicht über das Ende des Trojanischen Krieges. Erst in der Odyssee, dem zweiten großen Werk des griechischen Dichters, das die Irrfahrten des Odysseus erzählt, wird über den Untergang Trojas berichtet.

Irrfahrt, Verlockung, Heimkehr – die Odyssee

In ebenfalls 24 Gesängen wird von der langen Rückkehr des Helden Odysseus nach dem Trojanischen Krieg zu seiner Heimatinsel Ithaka erzählt, wo er König ist. Die Handlung spielt sich in mythischer Vorzeit vor dem Hintergrund der griechischen Götterwelt ab. Odysseus hat eine zehnjährige Irrfahrt vor sich, bevor er zu seiner Frau Penelope und dem Sohn Telemachos heimkehren wird.

Von den unzähligen Stationen seiner Reise seien nur die geläufigsten genannt – Polyphem, der einäugige Riese, die Insel der Sirenen und nicht zu vergessen, die Meernymphe Kalypso. Sie verspricht ihm Unsterblichkeit, wenn er für immer bei ihr bliebe. Odysseus weilt sieben Jahre bei ihr und teilt mit ihr das Bett, sehnt sich aber mit der Zeit trotz aller Verlockungen nach Ithaka zu seiner Familie zurück.

Erst das gastfreundliche Volk der Phaiaken ermöglicht ihm die Heimfahrt. Indes hat Penelope, die geduldigste Warterin der Weltliteratur, es geschafft, die gierigen Freier zehn Jahre von sich fernzuhalten, die sie stets davon überzeugen wollten, ihr Ehemann sei tot. Den von der langen Seereise gealterten Odysseus erkennt sie zuerst nicht wieder. Schließlich bildet das Ende die Aussöhnung des Heimkehrers mit seiner und den Familien der von ihm getöteten Freier.

Der Gesang der Sirenen war nur eine der Herausforderungen des irrfahrenden Odysseus.

Vorgelesen

Manfred Zapatka und Christian Brückner, die Sprecher der beiden von mir präferierten ungekürzten Hörbuchausgaben, lesen meisterhaft und mit angenehmem Tempo den wunderbar übersetzten Text Kurt Steinmanns, der sich der heutigen Zeit wesentlich besser anpasst als der seines berühmten Vorgängers Johann Heinrich Voß, der wohl bedeutendste Übersetzer der Homer’schen Epen.

Wer sich nicht viel Zeit für dieses umfangreiche Werk nehmen möchte, dem empfehle ich die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab, eine bewährte Nacherzählung vieler griechischer Heldensagen. Vielen vielleicht bekannt ist die federleichte Version von Michael Köhlmeier, beim Hörbuch, so wie schon auf Ö1 auch von ihm selbst überzeugend vorgelesen. Köhlmeiers Nacherzählung ist sicherlich der schnellste und einfachste Zugang zu diesen schönen Geschichten über Götter und Helden der Antike.

Eine weitere, durchaus interessante Interpretation des Stoffes rund um Odysseus bietet Inge Merkel in ihrem unkonventionellen Roman Eine ganz gewöhnliche Ehe – Odysseus und Penelope. Mit viel Feingefühl und Menschenkenntnis beschreibt die Autorin das Leben zweier Menschen in allen Nuancen. Nicht ohne einer Prise Humor zeigt sie dabei auch klassische Mann-Frau Konflikte auf. Ein Buch, in dem sich jeder in den beschriebenen Charakteren wiederfindet. Ein Buch über Leid, Schmerz, Sehnsucht, Trauer, Angst, Freude und Hoffnung. Also ein Buch über das Leben. Bedauerlicherweise gibt es dieses schöne Werk nicht als Hörbuch, man darf sich hierbei also ganz der Leselust widmen.

Weltgedichte

Die Ilias und die Odyssee Homers beeinflussten durch ihr frühes Entstehen und die Komplexität des Inhalts sehr viele Literaturgattungen, Künstler und Wissenschaftler Europas. Der Philosoph Theodor W. Adorno beispielsweise sah in Odysseus den ersten modernen Menschentyp in der Literaturgeschichte: Er sei der erste Charakter, der sich nicht den Göttern und dem Schicksal ergebe, sondern – manchmal unter Leugnung seiner Identität – erfolgreich gegen beide ankämpfe und damit zum Herrscher über sein eigenes Geschick werde. Der moderne Mensch müsse wie Odysseus fähig sein, seine Identität aufzugeben, um sie zu erhalten.

Wirklich zu Hause sein kann ein Mann nur, wenn er von irgendwo zurückgekommen ist.

Aus „Eine ganz gewöhnliche Ehe“ von Inge Merkel


Bücher: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Gustav Schwab, Goldmann TB-Verlag, ISBN-13: 9783442005000

Sagen des klassischen Altertums, Michael Köhlmeier, Piper TB-Verlag, ISBN-10: 3492223710, ISBN-13: 978-3492223713

Eine ganz gewöhnliche Ehe – Odysseus und Penelope, Inge Merkel, Fischer TB-Verlag, ISBN-10: 3596292301, ISBN-13: 978-3596292301

Hörbücher: Ilias, Der Hörverlag, Sprecher Manfred Zapatka, Spieldauer 19 Std. 50 Min.

Odyssee, parlando Verlag, Sprecher Christian Brückner, Spieldauer 16 Std. 54 Min. Sagen des klassischen Altertums, Der Hörverlag, Sprecher Matthias Ponnier, Spieldauer 26 Std.

Klassische Sagen des Altertums I, ORF Shop, Sprecher Michael Köhlmeier

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