„Man darf den Kopf nicht in den Sand stecken“, sagt die zwölfjährige Bulgarin Iren Yovcheva. Vielleicht hat sie diese Einstellung von ihren Eltern, die der taub geborenen Tochter schon im Alter von zwölf Monaten ein CI ermöglichten. In Bulgarien feiert man übrigens heuer 20 Jahre Cochlea-Implantation.
Schon 1997 hatte sich ein junges Paar mit deren Tochter an die HNO-Spezialisten gewandt. Die damals zweieinhalbjährige Elia war das erste bulgarische Kind, das mittels CI hören lernte. Die Implantation selbst wurde zwar an der Wiener Universitätsklinik durchgeführt, doch sie fand auch in Elias Heimat Bulgarien Resonanz. „Wir haben uns dann mit der Gehörlosenvereinigung und mit dem CI-Hersteller getroffen“, erinnert sich Prof. Dr. Ivan Zenev, damals Primar der HNO-Universitätsklinik Tsaritsa Yoanna (Königin Johanna) in Sofia. „Der Präsident der Gehörlosenvereinigung sagte damals, das CI habe keine Zukunft.“
Zenev jedoch erkannte das Potential der Implantate. Er besuchte einen Fachkongress in Deutschland, um sich genauer zu informieren. Am 16. Juni 1999 führte er dann, gemeinsam mit Prof. Dr. Milan Profant aus Bratislava, die ersten beiden Cochlea-Implantationen in Bulgarien durch. Die finanziellen Mittel dazu aufzutreiben, war nicht einfach, aber es gab auch andere Herausforderungen: „Die meisten meiner Kollegen erwarteten, dass der Patient nach der Operation gleich hören und sprechen kann. Das waren damals aber Kinder, deren Rehabilitation viele Investitionen und Mühen bedurfte.“
Gehörlose Kinder und CI-Kinder
Unterstützung finden die Familien unter anderem bei ARDUS. Der Name bedeutet „Vereinigung von Eltern hörbeeinträchtigter Kinder.“ ARDUS war bereits 1992 in Sofia gegründet worden, ursprünglich als Selbsthilfegruppe für Familien gehörloser Kindern. Das Verhältnis zwischen CI und Gebärdensprache wird auch bei ARDUS manchmal diskutiert, doch der Verein verstand sich schon bald auch als Ansprechpartner für Familien von CI-Kindern. Heute organisiert ARDUS neben gemeinsamen Freizeitaktivitäten auch Hörrehabilitation und setzt sich für die Integration aller hörbeeinträchtigter Kinder ein.
Über 700 Cochlea-Implantationen wurden seit 1999 in Bulgarien durchgeführt, die meisten davon bei Kindern. Vier Kliniken sichern heute die landesweite Versorgung mit CIs. Diese Erfolge wurden 2019 mit der Kampagne „20 Jahre Cochlea-Implantation in Bulgarien – wenn aus Hoffnung Wirklichkeit wird“ gefeiert, an der sich neben den Kliniken, dem CI-Hersteller MED-EL und zahlreichen Nutzern auch die Selbsthilfegruppe ARDUS beteiligte. Sie lud Kinder und Teenager mit Cochlea-Implantat ein, bei einem Malwettbewerb die „Klänge des Lebens“ bildlich darzustellen.
„Den Kopf nicht in den Sand stecken!“
Die zwölfjährige Iren Yovcheva gewann den Zeichenwettbewerb in ihrer Altersklasse mit der Zeichnung „Mama, Papa und ich“. Ihr Bild interpretiert Iren bei einem Interview mit dem bulgarischen Rundfunk: „Wir halten trotz aller Schwierigkeiten immer zusammen. Probleme diskutieren wir und finden so gemeinsam eine Lösung.“
Auch für die Eltern hörbeeinträchtigter Kinder hat Iren eine klare Botschaft. „Egal, vor welche Hürden uns das Leben stellt: Es ist besser, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern hoch erhobenen Hauptes an sich selbst zu glauben“, sagt sie und ergänzt selbstbewusst: „Mit Optimismus und dem Glauben an sich selbst überwindet man alle Hürden!“
In der Altersklasse „Junge Erwachsene“ siegte die 19-jährige Yordanka „Dani“ Bagova. Im Alter von einem Jahr verlor sie ihr Gehör und erhielt einige Jahre später ihr Cochlea-Implantat. Yordankas künstlerisches Talent erkannte und förderte schon ihre Volksschullehrerin, den ersten Malwettbewerb gewann das Mädchen im Alter von neun Jahren. Ihre Arbeit zum Thema „Schlittschuhe, Ski, Schlitten und eisige Ohren“ schaffte es 2011 sogar aufs Cover des renommierten Magazins „National Geographic“. Seither heimste Yordanka, die ein Kunstgymnasium besucht, zahlreiche Preise ein, ist mit ihren Gemälden auf vielen Ausstellungen und Auktionen vertreten und auch sonst sehr aktiv. So vertrat sie Bulgarien 2018 erfolgreich beim Schönheitswettbewerb Miss and Mister Deaf World – Europe & Asia.
Das Leben hören – und Sprachen lernen
Im Frühling war der Malwettbewerb von ARDUS gestartet worden, im September konnten hunderte Besucher die Zeichnungen aller Wettbewerbsteilnehmer in einer 14 Tage dauernden Ausstellung im Kristallgarten bewundern, im Herzen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Die Gewinnerinnen Iren, in Begleitung ihres Vaters, und Dani durften anschließend eine Reise nach Innsbruck antreten. Iren konnte dabei auch ihr Sprachentalent unter Beweis stellen: Sie lernt gerade Spanisch und spricht neben ihre Muttersprache Bulgarisch auch schon sehr gut Englisch.
Das erste Highlight für die beiden CI-Nutzerinnen war die Firmenführung, bei der die Schülerinnen Einblicke in die Herstellung von Cochlea-Implantaten gewannen. Der nächste Höhepunkt folgte unmittelbar, als die beiden im Lab navigationsgesteuert ihr Talent als Chirurginnen testen konnten. Ein Audioversum-Besuch rundete die Reise rund um das Thema Hören ab. Natürlich durfte auch eine klassische Stadtführung durch Innsbruck nicht fehlen: Besonders zeigten sich die beiden jungen Damen von der Bergwelt, dem Glitzer des Goldenen Dachls und den Swarovski-Kristallen begeistert.
„Wir sind auf dem richtigen Weg!“
Wie in weiten Bereichen Südosteuropas erschwert die angespannte wirtschaftliche Situation immer auch in Irens und Danis Heimat Bulgarien noch immer die Sicherstellung einer angemessenen Gesundheitsversorgung für alle Bürger. Verlässliche Zahlen über taub geborene Kinder stehen in Bulgarien zurzeit nicht zur Verfügung, ebenso wie ein umfassendes Programm zur Erfassung und Förderung hörbeeinträchtigter Kleinkinder. „Ich habe den Eindruck, die Zahl der taub geborenen Kinder steigt. Deswegen sollte der Staat das Budget erhöhen, um mehr Cochlea-Implantationen zu ermöglichen“, fordert Zenev von den bulgarischen Krankenkassen. Eine zeitgerechte Cochlea-Implantation zu versäumen, hat massive Auswirkungen auf die Entwicklung und Integration von Kindern, auf ihre Zukunftsaussichten und ihre Lebensqualität – und verursacht letztlich höhere Kosten als die Finanzierung einer zeitgerechten Implantation.
Als Leiter der HNO-Universitätsklinik ist der renommierte Chirurg schon in Pension gegangen, doch er ist zuversichtlich: „Wir sind in Bulgarien auf dem richtigen Weg. An unserer Klinik arbeiten viele junge, talentierte Ärzte. Bei ihnen weiß ich unsere Arbeit in guten Händen.“ Iren, Dani, Elia und zahlreiche andere Kinder und Erwachsene in Bulgarien haben die Hürden zum CI schon jetzt erfolgreich genommen und sind unterwegs in eine selbstbewusste und selbstbestimmte Zukunft.
Die Exponate der Ausstellung im Kristallgarten in Sofia sind auch auf Facebook zu bewundern.