In der ersten Zeit mit einem Cochlea–Implantat oder in schwierigen Hörsituationen ist für CI-Nutzer das Mundbild des Gesprächspartners oft hilfreich für das Sprachverstehen. Doch was, wenn der CI-Nutzer dieses Mundbild aufgrund einer visuellen Einschränkung nicht sehen kann?
Eva Kohl
Juliane B. sitzt auf der Wohnzimmer-Couch in ihrer Wohnung nahe der Wiener Innenstadt: auf dem Tisch vor ihr eine Vase mit einem Strauß duftender Pfingstrosen; davor eine Brille mit auffallend kleinen, dicken Gläsern. Die Lupenbrille hilft der zweifachen Mutter, groß gedruckte Texte oder handschriftliche Notizen zu lesen. Zu ihrer visuellen Einschränkung kommt eine beidseitige Hörminderung. Zuhause mit Mann und Töchtern kommuniziert sie lautsprachlich. Ein Cochlea–Implantat macht das möglich.
Nach der ersten Gewöhnungsphase kommt sie nun mit dem Implantat schon gut zurecht. „Aber wenn bei Tisch alle durcheinander sprechen und ich nichts verstehe…“ Laute Umgebung, ungewohnte oder undeutlich sprechende Gesprächspartner oder die Notwendigkeit, neue Namen oder Begriffe exakt zu verstehen – es gibt Situationen, in denen sie sich immer noch unsicher fühlt, ob sie richtig verstanden hat. Block und Bleistift hat sie nicht immer dabei, doch im Lormen hat die Mittvierzigerin eine Alternative gefunden, die sie mit ihrem Verein auch anderen Menschen näherbringen möchte.
Zwischen allen Stühlen
Im Februar fand im Vienna International Center die international besetzte Zero Project Conference 2020 zum Thema Inklusion und selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung statt. „Ich war enorm stolz, zum ersten Mal meinen Verein zur Förderung des Lormens im Rahmen der Konferenz vorzustellen, und bin dankbar für die Gelegenheit.“ Mit den Vorträgen der anderen Teilnehmer war Juliane B. aber überfordert, denn akustisch konnte sie nicht gut genug verstehen, die Bildschirme der Schriftdolmetscher nicht sehen und auch die Gebärdendolmetscher waren ihr keine Hilfe. Ein Gefühl, das sie im Lauf ihres Lebens schon oft hatte: „Ich war immer zwischen allen Stühlen.“
„Ich bin mit Hörenden aufgewachsen und war die einzige in meiner Familie mit Hörproblemen. Ich habe so sehr zu kaschieren gelernt, dass viele meine Schwerhörigkeit nicht bemerkt haben.“ Die Sehprobleme haben die Möglichkeiten der geborenen Steirerin weiter eingeschränkt, Reaktionen und Mimik zu beobachten. „Ich wusste nie wirklich, was andere denken und fühlte mich oft einsam.“
Beim ÖHTB, dem Österreichischen Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte, lernte Juliane B. zusätzlich die Technik des Lormens kennen. Ein Bekannter, selbst seit über zehn Jahren CI-Nutzer, ermutigte sie, die Möglichkeit einer Cochlea–Implantation abzuklären. So wurde sie 2018 dann mit einem CI versorgt.
Einfach, unkompliziert, immer verfügbar
Gehörlose Menschen ohne CI verständigen sich untereinander oft in Gebärdensprache, die sich in Handstellungen und -bewegungen sowie in Mimik und Lippenbild ausdrückt. Wenn Gehörlose im Lauf des Lebens auch das Sehvermögen verlieren, tasten sie vielfach die Gebärden ihres Gesprächspartners ab: Taktile Gebärdensprache.
„Gebärdensprache ist aber eine eigene Sprache mit einer eigenen Grammatik. Um sie zu erlernen, braucht man mindestens zwei Jahre“, erklärt Juliane B. die Hürde für audio-verbal orientierte Betroffene, wie das bei hörend geborenen Taubblinden zumeist der Fall ist. Diese kommunizieren daher oft mittels Lormens, das auf Schriftsprache aufbaut: Der Sprechende tippt, trommelt oder streicht auf oder über bestimmte Stellen der Handinnenseite des Lesenden, Ziffern und Satzzeichen werden direkt in die Handfläche geschrieben. „Das ist ähnlich leicht oder schwer wie das Fingeralphabet. Voraussetzung ist natürlich, dass man das Alphabet kann.“
Stille Post in Geheimsprache
Beim Lormen wird jeder Satz und jede Phrase buchstabiert: „Um damit fließend zu kommunizieren, muss man es natürlich üben. Das System verstehen kann man aber in ein paar Stunden.“ Als Gedächtnisstütze und Hilfe beim Üben gibt es Baumwollhandschuhe, auf denen die Zeichen für alle Buchstaben dargestellt sind. Mit Hilfe eines solchen Lorm-Handschuhs können auch gänzlich Ungeübte Namen, Ortsbezeichnungen oder die Schlüsselwörter einer Kommunikation übermitteln.
Lorm-Profis brauchen freilich nur noch die freie Handfläche, um ihr Gespräch in die Hand zu schreiben. Wenn der hörsehbehinderte Gesprächspartner noch über Sehreste verfügt, kann sogar in die eigene Hand gelormt werden und so physischer Abstand gewahrt – wie jetzt zu Zeiten der Corona-Krise gefordert.
Wie rasch Lormen erlernt werden kann, haben der zweifachen Mutter die Schüler einer Volksschulklasse demonstriert. Die Wahlwienerin hat die Klasse im Rahmen eines Workshops besucht, bei dem sie den Kindern das System des Lormens zeigte: „Bei einem zweiten Besuch haben wir dann schon mittels Lormen Stille Post gespielt.“
Unterstützung – nicht nur für taubblinde Menschen
Das Lorm-Alphabet geht auf den tschechischen Schriftsteller Hieronymus Lorm alias Heinrich Landesmann zurück, der im 19. Jahrhundert im tschechischen Mikulov nahe der Grenze zum österreichischen Weinviertel geboren wurde, als 15-Jähriger ertaubte und später auch erblindete. Heute lormen in Österreich taubblinde Personen untereinander, mit Angehörigen und Betreuern.
Juliane B. sieht im Lormen aber auch ein potentes Hilfsmittel weit über diese relativ kleine Nutzergruppe hinaus. „Auch für Leute mit Kehlkopferkrankungen könnte das interessant sein“, ist die CI-Nutzerin überzeugt: „Oder für CI-Nutzer vor der Aktivierung des Prozessors, oder in der ersten Zeit, wenn sie noch nicht gut verstehen.“ Sie selbst bevorzugt es, in schwierigen Hörsituationen – zum Beispiel am Bahnhof oder in großen Gesprächsrunden – zu lormen, statt wiederholt nachzufragen. Speziell wenn Papier und Stift gerade nicht zur Hand sind: „So kann ich Nervosität und Stress abfangen.“
Damit Lormen bei Bedarf auch mit Fremden einsetzbar ist, müssen die zumindest das Konzept kennen. Deswegen will Juliane B. ihren Verein nützen, um Lormen auch unter Normalhörenden besser bekannt zu machen. „Es ist doch schön, ein so einfaches Hilfsmittel zu kennen, dass man immer dabeihat und das auch in vielen Sprachen verwendbar ist.“
WISSENSWERT
Lormen lernen
Lern Lormen: Kostenfreie Smartphone-Applikation; Information und Anleitung sowie Übungsmaterial
Textile Lorm-Handschuhe: kostenfrei in der Beratungsstelle für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen des ÖHTB – Österreichische Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte, 1060 Wien, Stumpergasse 41 – 43/2/R4, Telefon: +43 1 597 18 44, Fax Durchwahl 17, www.sinnesbehindert.at.
„Die haptische Kommunikation“: Lehrbuch zum Erlernen des Lormens und der haptischen Kommunikation, 2. erweiterte Auflage Oktober 2019: Plattform „Fachlehrerinnen Lormen und Haptische Kommunikation“ Schweiz, Anita Rothenbühler anita.rb@bluewin.ch, € 36.00 zuzüglich Verpackung- und Versandkosten, sowie Zoll. Elektronische und barrierefreie Versionen sind in Vorbereitung.
Technik-Preise für Lorm Glove
Ein Team unter Leitung von Dr. Tom Bieling entwickelte am Design Research Lab der Berliner Universität der Künste einen Handschuh, der mit Hilfe von Sensoren gelormten Text digitalisiert und als Schrift- oder Sprachnachricht ausgibt. Empfangene Nachrichten werden mittels Vibratoren als Lorm-Nachricht übermittelt, womit Lormen auch über große Distanzen möglich wird. Die Darstellung des gelormten Textes auf einem Monitor hilft Sehenden beim Erlernen des Lorm-Alphabets. Die Wissenschaftler erhielten 2016 für den Lorm Glove den mit 10.000 Euro dotierten WINTEC, den österreichischen Wissenschaftspreis für Inklusion durch Naturwissenschaft und Technik.
Parallel entwickelten Alexander Bachmeier, Michael Eder und Martin Plattner an der Höheren Technischen Lehranstalt TGM in Wien ein ähnliches, wenn auch weniger umfangreiches System als Diplomarbeit und errangen damit 2016 den dritten Platz beim Jugendinnovationspreis AXAward. In einer weiteren Diplomarbeit erweiterte Eder gemeinsam mit Michael Egger und Philipp Grünert die Entwicklung um Internet- und SMS-Funktion, wofür die Gruppe beim Qualifly.ing Contest 2020 prämiert wurde.
Kommunikation taubblinder Menschen
Seit 1977 gibt es in Österreich die Möglichkeit zur Cochlea–Implantation, auch für taubblinde oder hochgradig hörsehbehinderte Menschen. Davor entwickelten sich für Betroffene Alternativen, die jetzt auch ergänzend eingesetzt werden können.
Wenn gehörlose Menschen erblinden, verwenden sie aufbauend auf Gebärdensprache oft taktile Gebärden. Dabei werden die Gebärden abgetastet. Für buchstabierte Begriffe wird daktyliert: das Fingeralphabet ertastet. Dafür wurde das früher gebräuchliche, beidhändige Fingeralphabet durch ein international standardisiertes, einhändiges Fingeralphabet ersetzt.
Zum Erlernen der Lautsprache und zum Gespräch mit lautsprachlich kommunizierenden Gesprächspartnern kann Tadoma genützt werden, das direkte Abtasten des Gesagten auf Lippen und Kinn des Sprechenden.
Wenn blinde Menschen ertauben, nutzen sie häufig das auf lautsprachliche Schriftsprache aufbauende Lormen. Lormen ist dabei nicht mit der Gebärdensprache vergleichbar, sondern mit dem Fingeralphabet. Es gibt aber für besonders gängige oder wichtige Phrasen auch eigene Berührungszeichen: „Ja“ oder „nein“, „ich habe Hunger“ oder „ich bin wieder da“, …. Diese Haptische Kommunikation ermöglicht raschen Zugang zu wichtigen Informationen, besonders auch in hektischen oder gefährlichen Situationen, ergänzend zum eigentlichen Lormen.
Weitere Informationen auch zu Sonderformen der Kommunikation finden Sie in den Diplomarbeiten von Eva Sacherer und Martina da Sacco, beide Universität Wien.