Über 19 Jahre lang leitete Mag. Katharina Strohmayer das BiG-Schulzentrum – Bundesinstitut für Gehörlosenbildung in Wien. Mit August 2020 wurde sie in den Ruhestand versetzt. gehört.gelesen bat die erfahrene Pädagogin zum Interview.
GG: Frau Magister Strohmayer, wie sind Sie zur Hörgeschädigtenpädagogik gekommen?
KS: Ich wusste bereits mit 17 Jahren, dass ich am Sonderschulbereich arbeiten möchte. Ich schaute mir damals Kinderheime und Sonderschulen an, absolvierte dort auch Praktika und merkte dabei, dass ich zu hörbeeinträchtigten Kindern guten Zugang finde. Daher absolvierte ich in Köln das Studium zur Hörgeschädigtenlehrerin: In Deutschland hat man damals parallel zur normalen Lehramtsausbildung für zwei spezielle Fachrichtungen der Sonderschule studiert.
Ich arbeitete dann in Deutschland, als mich 1983 die Liebe nach Wien führte. In Wien arbeitete ich an der Schwerhörigenschule – erst als Integrationslehrerin und dann in der Klasse – bis ich vor ungefähr 23 Jahren die Schule in der Josefstädter Lange Gasse übernahm, die ich als Schwerpunktschule für Cochlea-implantierte Kinder ausbauen konnte.
GG: Die Vor- und Volksschule Lange Gasse hat seither einen Integrationsschwerpunkt für hörbeeinträchtigte Kinder beibehalten. Wieso haben Sie als Sonderschullehrerin damals die Leitung einer reinen Regelschule übernommen?
KS: Weil eine Elterninitiative damals beim Stadtschulrat erreicht hatte, dass ich diesen Schulschwerpunkt etablieren durfte. Ich war gerade drei Jahre Direktorin an der Lange Gasse und sehr gerne dort, als der Stadtschulart während des laufenden Schuljahrs eine neue Leitung für das BiG suchte und mich dorthin berief. Das war vor etwas mehr als 19 Jahren.
Am BiG hatte ich plötzlich Kinder von null bis 18 Jahren zu betreuen. Das eröffnete mir neue pädagogische Möglichkeiten, weil ich damit viele neue Impulse setzen, sehr flexibel arbeiten und auf die Kinder eingehen konnte. Das BiG bietet vom Aufbau her großartige Voraussetzungen!
GG: Über das umfangreiche Ausbildungs- und Betreuungsangebot am BiG haben wir 2014 schon gesprochen.1 Doch welche speziellen Akzente haben Sie persönlich am BiG gesetzt?
KS: Das war einerseits die Methodenvielfalt: Wir haben heute wirklich für alle Kinder von hochintelligenten Kindern bis zu Kindern mit erhöhtem Förderbedarf adäquate Angebote.
Dann haben wir eine Vielfalt in der Methodik und Didaktik entwickelt, sodass wir alles anbieten: vom bilingualen Unterricht: Gebärdensprache und Laut– oder Schriftsprache bis hin zu hörgerichtetem Unterricht für Kinder, die mit Hörgerät oder Cochlea–Implantat lautsprachlichen Unterricht gut folgen können.
Der dritte Aspekt war ein starker Ausbau der Inklusion. Im letzten Jahr hatten wir 34 Klassen, davon 21 Inklusions- und 13 Kleinklassen: Manche Kinder gehen in der großen Gruppe unter, deswegen ist diese Parallelität verschiedener Angebote so wichtig. Das Angebot sollte unbedingt weiter bestehen!
Ich bin der Bildungsdirektion dankbar, dass sie das alles ermöglichte. Als Direktorin kann man ja viele Ideen haben, aber umsetzen kann man nur jene, für die man auch die Zustimmung und die Ressourcen bekommt.
GG: War Inklusion vor 20 Jahren am BiG noch nicht üblich?
Es gab eine Integrationsklasse, wie das damals hieß. Grundsätzlich war die Integrationsklasse aber eine Mischform, in der nicht unterschieden wurde, ob Kinder bilingual unterrichtet werden, ob hörgerichtet oder in Gebärdensprache – alle besuchten eine gemeinsame Klasse. In dieser Konstellation war es nicht nur für die Pädagogen schwierig zu unterrichten; besonders schwierig war es für die Kinder, die ja nicht gleichzeitig lautsprachlich kommunizieren und gebärden konnten.
Deswegen braucht es meines Erachtens Schwerpunkte: Je nachdem, welchen Zugang die Kinder jeweils benötigen, kann die Schule entsprechende Klassen anbieten. Wir bauten diese Methodenvielfalt am BiG auf und auch die Methodenwahl. Letztlich entscheiden jetzt die Eltern und Erziehungsberechtigten für ihre Kinder, welche Unterrichtsform sie wählen.
Ich war deswegen auch immer froh, wenn Lehrkräfte an die Schule kamen, die sich schon in der Ausbildung gleichberechtigt Gebärdensprache und lautsprachliche Unterrichtsformen angeeignet hatten.
GG: Und BiG-betreute Schüler, die an Regelschulen unterrichtet werden?
KS: An den Schwerpunktschulen gibt es auch bilinguale Klassen, aber die einzelinkludierten Kinder werden zurzeit alle hörgerichtet unterrichtet. An Bundesschulen werden diese Kinder bis zur Matura von BiG–Lehrern gefördert.
Für gehörlose Schüler in der Inklusion ist die Unterstützung eines zusätzlichen Gebärdendolmetschers schon seit Jahren möglich. Wenn Hörgeräte- oder CI-Kinder einen Schriftdolmetscher beantragten, wurde der lange Zeit nicht genehmigt. Das ändert sich gerade: Jetzt kann man auch erfolgreich einen Schriftdolmetscher beantragen. Stellen Sie sich vor: Statt eines Gebärdendolmetschers wie bisher bei gehörlosen Schülern üblich, ist jetzt für jeden CI-Schüler zusätzlich zum Unterstützungslehrer ein Schriftdolmetscher möglich! Ich fürchte nur, das wird zu teuer, aber für lautsprachlich orientierte hörbeeinträchtigte Schüler wäre das traumhaft.
GG: Sie waren nicht nur Lehrerin und Direktorin, sondern auch in der LehrerInnen-Ausbildung aktiv?
KS: Ja, bereits in Deutschland war ich als Referentin tätig und seit 19 Jahren koordiniere ich auch den bundesweiten Hochschullehrgang zum Hörgeschädigtenpädagogen in Österreich, gemeinsam mit Jutta Limbacher von der Pädagogischen Hochschule Baden. Und da bleibe ich vorerst auch aktiv.
Um hörbeeinträchtigte Schüler zu unterrichten, ist ein abgeschlossenes Lehramt Voraussetzung, an das eine berufsbegleitende Zusatzausbildung angeschlossen wird. Unser bundesweiter Lehrgang umfasst fünf Semester mit einwöchigen Modulen einmal monatlich, die jeweils mit einer Prüfung abgeschlossen werden. Die TeilnehmerInnen wissen aus ihrer Lehrpraxis schon genau, was sie brauchen. Natürlich schauen wir in der Ausbildung auch über den Tellerrand: Die Studierenden lernen auch über AVWS, ADHS oder verschiedene Mehrfachbeeinträchtigungen, denn etwa 37 Prozent aller hörbeeinträchtigter Kinder haben zusätzliche Problematiken.
Jetzt im Herbst startete allerdings der vorerst letzte Lehrgang, denn mit der „PädagogInnenausbildung Neu“ wurden diese speziellen Ausbildungen leider abgeschafft. Im Rahmen einer neuen Schwerpunktsetzung und Vertiefung zu Inklusion hören Studierende auch über Hörschädigungen, Sehschädigungen, Diversität – aber allgemein gefächert. Bei diesem allgemeinen Zugang zur Inklusion können sich die Studierenden viele Qualitäten aneignen. Meines Erachtens aber zu wenig, um damit speziell als Hörgeschädigtenlehrer arbeiten zu können. Deswegen hoffe ich, dass es auch in Zukunft wieder eine entsprechende Zusatzausbildung geben wird, in der auch die volle Methodenvielfalt vermittelt wird.
GG: Schule soll Wissen vermitteln und den Erwerb von Sozialkompetenzen garantieren. Wie weit geht Schule darüber hinaus, gerade an der Sonderschule?
KS: Ich glaube grundsätzlich, dass Lehrer für ihre Schüler auch Ansprechpersonen für persönliche Belange sind. Das soziale Engagement der Sonderschullehrer ist dabei in der Regel wesentlich höher als im Gesetz gefordert. Die kleineren Klassen an der Sonderschule schaffen besondere Nähe und persönliche Bindung der Kinder zum Klassenvorstand und ermöglichen damit einen anderen Zugang als an der Regelschule. Letztlich hängt das Engagement aber von der jeweiligen Person ab und auch von der Klassenkonstellation: Bei manchen Klassen ist wenig Input nötig, bei anderen müssen die Lehrkräfte mit dem Psychologen und dem Beratungslehrer ein enges Netz bilden, um den Kindern gerecht zu werden. Am Beispiel des persönlichen Engagements einzelner Lehrkräfte bei Berufspraktika im Rahmen des Faches „Berufsorientierung“ zeigt Strohmayer: Es gibt die gesetzlichen Möglichkeiten und die Frage, wie du diese Möglichkeiten ausschöpfst. Und am BiG gibt es da wirklich ein großartiges pädagogisches Team mit jungen, engagierten KollegInnen, die neuen Wind hineinbringen und gleichzeitig von den erfahrenen KollegInnen annehmen.
GG: Wie können junge Pädagogen sich auf solche Herausforderungen vorbereitet?
KS: Für junge Lehrkräfte wurde zur Unterstützung ein Mentorensystem eingeführt – ein Angebot, das in der neuen Lehrerausbildung verpflichtend wurde: eine gute neue Entwicklung. Die Pädagogische Hochschule bietet zudem kostenfreie Supervision an – jungen Lehrern kann man wirklich raten, das auch in Anspruch zu nehmen.
GG: Lange Ferien und kurze Unterrichtstage auf einer Seite, umfangreiches Engagement auf der anderen Seite. Wie gestaltet sich da die Life-Work-Balance?
KS: Ich glaube, gerade Sonderschullehrer müssen aufpassen, nicht ins Burn-out zu geraten. Einerseits sind sie emotional sehr nahe an den Schülern. Andererseits darf man nicht vergessen: 22 Stunden bei den Kindern bedeuten 22 Stunden vorbereiten. Der Unterricht muss für die Kinder interessant aufbereitet werden. Besonders in Kleingruppen von Kindern mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen muss der Stoff für jedes Kind anders aufbereitet werden. Zudem haben Lehrer verpflichtende Fortbildungen zu absolvieren, die vorwiegend in den freien Zeiten sind – am Nachmittag, am Wochenende oder in den großen Ferien.
Abstand zu gewinnen ist daher von großer Wichtigkeit.
GG: Im Frühling 2020 ist in Österreich vieles aus der gewohnten Balance geraten – wie haben Sie die Corona-Krise am BiG erlebt?
KS: Die Situation war für alle eine Herausforderung. Im Lockdown waren Schule und Internat geschlossen und nur wenige Kinder zur Betreuung anwesend. Nach der Öffnung wurden die inklusiven Klassen analog zu den Partnerschulen geregelt, für die anderen Klassen hatten wir ein abgewandeltes System.
Für den Fernunterricht stellte das Ministerium viele Möglichkeiten zur Verfügung. Mit Video-Übertragung war auch Kommunikation mit Mundbild oder in Gebärdensprache möglich. Für die wenigen Kinder der Sekundarstufe, die keinen Computer hatten, stellten wir Schulcomputer zur Verfügung. Ein paar Kinder nahmen am Fernunterricht nicht so intensiv teil wie sonst am Unterricht. Andererseits konnten Lehrer von Kindern erzählen, die in der Klasse schüchtern sind, beim Homeschooling aber toll mitmachten. Für die Lehrer war diese Zeit sehr intensiv, die meisten hatten einen sehr intensiven Kontakt zu den Kindern zuhause. Trotz unerwartet positiver Erfahrungen waren dann aber alle froh, wieder soziale Kontakte gewohnt leben zu können.
In der Lehrerschaft funktionierte der Austausch untereinander auch gut. Mir persönlich fehlte im Homeoffice aber der persönliche Kontakt zu den Eltern und Kindern und zu den Kollegen, speziell, wenn es um Probleme ging.
Nach der Rückkehr an die Schule war auffallend, dass die Kinder bis Ferienbeginn sehr gedämpft wirkten – das konnten Pädagogen auch an anderen Schulen beobachten. Lustigkeit und Streitereien fehlten gleichermaßen, es war unglaublich leise an der Schule. Die Lehrkräfte hoffen auf den Herbst: Sie sind auch mit Streitigkeiten zufrieden, Hauptsache es kehrt wieder Normalität ein.
GG: Rückblickend, besonders nach einem so anstrengenden Schuljahr, würden Sie wieder den Lehrberuf ergreifen? Und was würden Sie sich und dem BiG für die Zukunft wünschen?
KS: Schwerhörigenlehrerin würde ich gern wieder werden!, so die unverzügliche Antwort. Dann spricht die erfahrene Pädagogin bedacht weiter: Wenn ich jünger wäre, würde ich auch gerne wieder Direktorin werden. Als Direktorin hat man bessere Möglichkeiten, pädagogische Konzepte umzusetzen. Aber gerade als Sonderschuldirektorin muss man sehr intensiv arbeiten und so gesehen war mein Pensionsantritt jetzt genau der richtige Schritt. Als Lehrerin zu arbeiten, wird mir aber fehlen.
Ich werde mich weiter bei der Lehrerausbildung engagieren, ich möchte mich jetzt auch mit Kunstgeschichte beschäftigen, etwas Neues beginnen. Seit zwei Jahren bin ich Großmutter – eine bezaubernde Erfahrung!
Am BiG muss jetzt ja erst eine neue Direktion dauerhaft bestellt werden. Der wünsche ich dann aber viel Freude mit den Kindern und dem wirklich tollen pädagogischen Team. Am BiG gibt es ja schon vieles, anderes fehlt noch, wie zum Beispiel eine eigene Oberstufe. Aber jeder Schulleiter hat da ja eigene, neue Ideen und Impulse. Das Team am BiG bringt dazu hohes Engagement mit und eine Vielfältigkeit, die gerne auch neue Impulse annimmt.