Infolge seines einseitigen Hörproblems hat der Komponist und Musiker Moritz Scharf ein besonderes Bewusstsein für das Stereo-Arrangement seiner Aufnahmen entwickelt, das er mit Knochenleitungsimplantat nun auch tatsächlich in Stereo hören kann.
Eva Kohl
Stereo hören dank Knochenleitungsimplantat
Zweistöckige Mehrfamilienhäuser säumen eine verträumte Sackgasse am südlichen Stadtrand von Wien. Hier liegt im ersten Stock die Wohnung von Moritz Scharf und seiner Familie. Musik und guter Klang spielen im Hause Scharf eine große Rolle.
„Ich komme aus einer musikalischen Familie. Die Gitarre, die mein Vater früher gespielt hat, steht jetzt in meinem Studio,“ dicht an dicht mit einer E-Gitarre und zwei E-Bässen jüngeren Baujahrs. „Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich erst das akustische Instrument lerne. Der Anschlag der Tasten und Saiten, das Kratzen des Bogens bei Geige oder Cello – manche Feinheiten klingen bei der E-Version einfach anders.“ Nach dem klassischen Unterricht in Blockflöte, Klavier und etwas E-Bass, zog sich der geborene Karlsruher in einer pubertären Schaffenspause auf das Hören von Musik zurück. „Als ich mit zwanzig nach Wien kam, habe ich dann angefangen, elektronische Musik zu machen.“
Klassik, Jazz und Synthesizer
Von Mussorgski bis Miles Davis – Musik war auch als passiver Hörgenuss bei Familie Scharf allgegenwärtig. „Irgendwann sagte mein Vater: Das ist Jazz – alles, was du danach machst, ist im Prinzip deine Sache.“ Als „Kind der 80er“ hörte der jugendliche Moritz dann ebenso Phil Collins oder AC/DC, wie später Hip-Hop, Ambient und Chillout, oder auch Techno. „Instrumente an ihre Grenzen gebracht, das ist meins.“
Heute macht er „seine Sache“ und komponiert elektronische Musik: programmierte Tonfolgen, analog erzeugte Motive und aufgenommene Geräusche, über den Synthesizer moduliert und am Rechner arrangiert. „Man kann Klänge auch am Computer gestalten“, doch Scharf bevorzugt modulare Synthesizer, wie er sie seit über acht Jahren mit einem Partner unter dem Firmennamen Endorphin.es baut und vertreibt. „Da hat man Knöpfe, kann drehen – das ist intuitiv. Das ist ein anderes Arbeiten als das Hin- und Herschieben mit dem Mauszeiger am Bildschirm.“
Elektronische Musik ist ein weites Feld, zu dem bekannte Namen wie Jean–Michel Jarre, Mike Oldfield, Vangelis oder Pink Floyd ebenso gehören wie aktuelle Künstler wie Powernerd oder Austrian Apparel. Moritz Scharf beschäftigte sich in der Ausbildung am New Design Center, im Wahlfach „Sound-Design“, erstmals aktiv mit elektronisch erzeugten Klängen. „Der Prozess war eine lange Reise,“ erinnert er sich, wie er von da an mit verschiedenen Stilrichtungen experimentierte. Auch heute möchte er sich weder mit einem der populären Repräsentanten der elektronischen Musik vergleichen noch an einen bestimmten Musikstil binden lassen – und hat doch seinen eigenen Klang gefunden.
Noten, deren Interpretation – und das, was man nur hören kann
„Das Musikbusiness tendiert heute dazu, einzelne Nummern zu releasen, oder EPs mit nur drei oder vier Tracks. Das finde ich schade.“ Als Komponist setzt Scharf zwar ebenfalls auf die Form der EP, auch Extended Play oder Mini-Album genannt. Als Musikkonsument schätzt er aber die früher übliche Format der LP mit Musikstücken eines Interpreten, oft aber verschiedener Tempi und Stile, deren Abfolge er als eigene Geschichte versteht – auch außerhalb von Programmmusik im engeren Sinn.
„Ganz wichtig war da für mich das Album Bilder einer Ausstellung von Emerson, Lake und Palmer.“ Die Rockgruppe ist für Synthesizer–lastige Mischung unterschiedlicher Musikstile bekannt, wobei sie auch Elemente aus Jazz, Blues und Klassik verarbeitet – wie eben auch bei dieser Neuinterpretation von Mussorgskis berühmtem Klavierzyklus. „Diese Interpretation ist meiner Meinung nach genau so facettenreich wie das Original.“
Scharf selbst bewegt sich mit seiner Musik „zwischen zeitgemäßer Klangstruktur einerseits und andererseits Melodie und Rhythmus. Es gibt immer auch Elemente, die atonal sind.“ Aufnahmen seiner Kompositionen sind als Download zu erwerben, die Frage nach Noten bringt den Komponisten zum Schmunzeln: „Wie notiere ich das Britzeln vom Induktionsherd, das ich mit dem Handy aufgenommen habe?“ Für seine Musik gibt es keine Partitur, man kann sie nicht lesen – nur hören.
Nach Gehör spielen – trotz Hörproblemen
Frequenz und Pegel, Intervalle, Verhältnisse und Obertonreihen. „Für mich ist Musik natürlich Mathematik, aber immer auch Emotion“, erklärt der 40-Jährige, warum er trotz klassischer Musikausbildung heute ausschließlich nach Gehör spielt. „Ich setze mich ans Klavier und fange an zu improvisieren. Oder wenn mir eine Melodie gefällt, nehme ich die Gitarre und versuche die Melodie nachzuspielen.“
Dabei ist der Musiker seit früher Kindheit hörbeeinträchtigt: Eine übergangene Mittelohrentzündung wurde chronisch. Nach zahlreichen Paukenröhrchen und mehreren Operationen konnte nach insgesamt 21 Jahren endlich die Entzündung ausgeheilt werden, zurück blieben zunehmende Höreinbußen: „Mit 36 habe ich links nur noch Bässe gehört.“ Der Versuch mit einem Hörgerät führte wieder zu neuerlichen Entzündungen, Schmerzen und der Notwendigkeit von Antibiotika – bis dann Jahre später Prof. Dr. Peter Franz, HNO-Chirurg und Primar an der Wiener Rudolfstiftung, ein BONEBRIDGE Knochenleitungsimplantat vorschlug.
„Mir hat Mono–Hören geholfen, bewusster in Stereo zu arbeiten.“
Aufgefallen war Scharf die Höreinbuße erstmals in der Pubertät: „Ich habe mich eines Tages auf mein gesundes Ohr gelegt und die Grillen nicht mehr zirpen gehört. Was das bedeutet, war mir als Jugendlicher aber nicht ganz bewusst.“ Im Lauf der immer wieder aufflammenden Entzündungen musste er aber zunehmende Klangunterschiede zwischen beiden Ohren hinnehmen: rechts klang alles heller und klarer, links dunkler und basslastig. „Nach einer Radikalausräumung 2001 war es links dann überhaupt ziemlich ruhig, weil ich dann keine Gehörknöchelchen mehr hatte, die Schall zum Innenohr hätten leiten können.“
„Ich bin oft von Musikerkollegen gefragt worden, wie ich das mache, dass mein Stereopanorama so aufgeräumt und ausgewogen ist“, dabei hörte der Musiker ohne Hörhilfe dann nur noch mono – bei der Abmischung seiner Kompositionen eine Herausforderung: „Das Stereopanorama gewann beim Produzieren für mich besonders an Gewicht, weil ich wollte, dass es für Stereo-Hörende angenehm und spannend klingt.“ Er musste dazu das funktionsfähige Ohr jeweils gezielt zum linken und rechten Lautsprecher drehen. Die Sorgfalt, eine Mischung sinnvoll und logisch klingen zu lassen, hat er sich auch mit Hörsystem erhalten.
Volle Kommunikation nur mit zwei Ohren
In der Kommunikation ist Stereo hören zwar weniger entscheidend als in der Musik, doch der Familienvater beteuert: „Ich brauche mein Hörsystem schon auch, um in der Kommunikation fit zu sein. Das ist schwierig, wenn ich auf der linken Seite nur den Bass höre.“
Auch Lokalisation von Geräuschquellen bedarf des Schalleindrucks von beiden Ohren, ist aber mit Basstönen kaum möglich. Und Partys waren für den geselligen Networker ohne Hörsystem überhaupt der reinste Spießrutenlauf: „Sobald mehr als drei Leute auf einmal redeten, war ich raus. Ich musste mich wahnsinnig konzentrieren.“ Die musikalische Erfahrung half ihm zwar beim Orten und Differenzieren, doch: „Ich hatte bald keinen Bock mehr, lange auf einer Party zu bleiben. Ich war immer recht bald körperlich erledigt und mental müde, weil mich das Hören so angestrengt hat.“ Mit der Bonebridge ist das alles leichter: „Es ist wirklich ein Luxus, dieses Gerät zu haben, weil es mir ermöglicht, am Alltagsgeschehen auf einem ganz anderen Niveau teilzunehmen als vorher.“
Der Techniker im Musiker
Zur Musik gehört nicht nur die Technik, das Instrument zu beherrschen, sondern auch ein grundlegendes Verständnis für Akustik. Bei Musik gehe es nicht um eine Abfolge von Noten, sondern wie diese von einem Instrument interpretiert werden: Klangformung, Einschwingverhalten und Obertonreihen; handelt es sich um einen Ton im eigentlichen Sinn oder um einen Klang nahe am Rauschen? „Der Spaß am Synthesizer ist für mich die Klangformung selbst, das Sounddesign.“ Dabei entstünden mitunter bisher unbekannte Klänge, oder auch ein spezieller Klangverlauf, der eine bestimmte Emotion erzeugt. Scharfs Devise dabei: „Die Hände an den Knöpfen, drehen und schauen: Wo geht die Reise hin?“
Die Ausdrucksformen beim Synthesizer seien dabei anders als bei akustischen Instrumenten: Filter, Einschwingverhalten, Hüllkurven und Modulatoren. Auch Scharfs Tonstudio ähnelt weniger einem Musikzimmer als einem Elektronik-Labor. Neben eingangs erwähnter Gitarren, einer Trompete und einer kurzen Tastatur stehen Computer und Bildschirm. Auf einer Halterung baumeln Verbindungskabel in kräftigen Farben und mit Federsteckern, wie sie auch in Elektronik-Labors verwendet werden. Und dann sind da noch die unterschiedlichen Synthesizer-Module selbst: zahlreiche Boxen mit Tastern, Schaltern und Drehreglern, roten und blauen Buchsen.
Affinität zu Technik und Verständnis von Akustik haben dem Musiker auch die Wahl seiner Hörhilfe erleichtert.
„Die BONEBRIDGE ist mein wichtigstes Instrument!“
Als Implantat-Spezialist Professor Franz 2019 ein Bonebridge Knochenleitungsimplantat vorschlug, hat Scharf sich über Funktion und Daten des Systems informiert. „Für mich als jemand, der sich mit Klang und Audio befasst, war das dann ein no-brainer, eine klare Sache. Das Konzept ist so simpel und clever – und passt genau für meine Situation: Mein Ohr bleibt offen.“ Aus der Erfahrung mit Hörgeräten weiß er, dass er damit weitere Ohrenentzündungen vermeidet. „Und der Schall wird über die Knochenleitung direkt ins Innenohr übertragen.“ Der ausgewogene Frequenzgang hat den technisch versierten Musiker zusätzlich überzeugt.
Für viele Betroffene geht es bei Hörhilfen primär um Hörverständnis. Zudem soll das Gerät meist Kompression und Störschall-Maskierung nachbilden, die bei den meisten Arten von Hörverlust verloren gehen. Dem Musiker mit der Schallleitungsschwerhörigkeit sind andere Qualitäten wichtig. Er hat aber bald seine individuell optimierte Einstellung gefunden. „Ich verwende bei der Bonebridge ständig ein individuell angepasstes Musikprogramm und verzichte auf alle Arten der Schallbearbeitung.“ Nach der nötigen Übung und Gewöhnung ermöglicht das System dem Musiker trotz einseitiger Schwerhörigkeit echtes Stereohören, auch bei der künstlerischen Arbeit. „Die Bonebridge ist in meiner Produktionskette eines der wichtigsten Instrumente und mit Sicherheit das wertvollste Studioequipment, das ich besitze.“
Musik von Moritz Scharf findet man auf https://moritzscharf.bandcamp.com und beim Wiener Label Rack Rash Records www.rackrash.com. Der Künstler ist Mitbegründer des Signalzirkus – Verein zur Förderung akustischer Kunstformen www.signalzirkus.at und der Facebook-Gruppe Vienna Modular.
Modulare Eurorack-Synthesizer von Endorphin.es findet man bei www.rawvoltage.wien, weiterführende Infos auf www.synthanatomy.com.
WISSENSWERT
Tipps fürs Musikhören
Mittig. Der beste Klang bei Konzerten ist in der Mitte der Halle. Dort fühlen sich auch die Ohren am wohlsten. Doch egal, wie Sie stehen: Gehörschutz tragen – auch in der Disco!
Drüber. Lieber Bügelkopfhörer als In-Ear-Kopfhörer. Sie müssen nicht so laut aufgedreht werden, da sie Schall von außen abhalten.
Kurz. Lautstärke am mp3-Player auf max. 85 Dezibel (dB) stellen. Bei 95 dB sind nur max. sechs Stunden pro Woche ohne Risiko für die Ohren möglich, bei 105 dB nur mehr 40 Minuten1.
Schnell. Sofort zum Arzt, wenn das Ohr noch Tage nach einer Lärmbelastung dröhnt, rauscht, pfeift, Sie ein Sausen hören oder ein dumpfes Gefühl im Ohr haben.