Mit Übungen leichter Lesen lernen

Lesen und Schreiben sind Schwerpunkte der Volksschulzeit und Basis späterer Bildung. Optimal eingestellte Hörsysteme, Übungen zur Lautdifferenzierung und entsprechende Motivation zum Lesen helfen hörbeeinträchtigten Taferlklasslern.

leichter lesen lernen

„Lesen und Schreiben gehören heute zu den Minimalanforderungen“, so Ursula Baatz, wissenschaftliche Kuratorin des Symposiums Dürnstein zum Thema Bildung. Sie prophezeit Menschen ohne gehobene Lese- und Schreibfähigkeiten zunehmend Schwierigkeiten, am Arbeitsmarkt ihren Platz zu finden. Weiterführende Bildungs- und Ausbildungssysteme bauen wesentlich auf Lese- und Schreibfähigkeit auf. Und auch in Alltag und Freizeit ist Lesefähigkeit wichtig.

Joanna Shepherd leitet das Rehabilitationsteam bei MED-EL. Sie verweist auf die enge Wechselwirkung zwischen akustischem Sprachverstehen, Leseverständnis und Erzählfähigkeiten. „Sprache, Informationen ordnen, verbales Erinnerungsvermögen, kognitives Verstehen und vieles mehr sind Fähigkeiten, die ein Kind benötigt, wenn es sich mit einer Geschichte befasst – unabhängig davon, ob es diese Geschichte hört, liest, erzählt oder schreibt.“

Die auditive Speicherung kann auch unabhängig vom Hörvermögen eingeschränkt sein. „Ich merke aber schon, dass viele hörbeeinträchtigte Kinder mehr Wiederholungen benötigen“, erklärt Michaela Velissaris, mobile Lehrerin für hörbeeinträchtigte Schüler in Wien. „Die Lautdifferenzierung entwickelt sich bei normalhörenden Kindern im Vorschulalter. Wenn Kinder in der Hörentwicklung noch nicht so weit sind, kann es sein, dass sie Laute noch nicht bewusst unterscheiden und zuordnen können.“

„Es gibt verschiedene Lese-Lehrmethoden.“

Nicole Supper unterrichtet an einer Volksschule in Wien. „Welche Lese-Lehrmethode die Klasse verwendet, ist der Lehrkraft freigestellt. Das hängt auch von der jeweils verwendeten Fibel ab.“ Man unterscheidet dabei zwischen analytischen und synthetischen Verfahren. Die klassische Buchstabiermethode gehört zu den synthetischen Methoden: Es werden Buchstaben erlernt, mit denen dann erste Wörter zusammengesetzt werden. „Ich hatte ein Kind, das lange statt „Mama“ „Em-a-em-a“ gelesen hat“, schmunzelt die Regelschulpädagogin. Deswegen spricht man die Konsonanten beim Buchstabieren heute ohne klingenden Vokal aus, also für das „M“ nicht „Em“, sondern „Mmm“.

Zu den synthetischen Lehransätzen gehören auch Lautiermethoden, die sich primär an den Lauten des gesprochenen Wortes orientieren – wie die Anlautmethode: Die Buchstaben werden anhand eines Wortes erlernt, das mit dem entsprechenden Laut beginnt: „M wie Maus.“ Gemeinsam ist den synthetischen Methoden die weitere Entwicklung: das Verschmelzen einzelner Buchstaben oder Laute bis hin zum zusammenhängenden Lesen.

Analytische Methoden nehmen hingegen ganze Wörter oder kurze Sätze als Ausgangpunkt: Durch den Vergleich – zum Beispiel zwischen Oma und Opa – sollen Buchstaben erkannt werden. „Das ist eher für leistungsstärkere Kinder, deswegen gehen nur wenige Klassen so vor“, erklärt Supper. „Am häufigsten werden Lautiermethoden verwendet, oft auch verschiedene Ansätze in Kombination.“

Vom Lesen zum Verstehen

„Hörbeeinträchtigten Kindern kommen ganzheitliche Methoden vielleicht entgegen, aber die meisten CI-Kinder haben mit einem lautierenden Ansatz kein Problem. Letztlich ist das Zuordnen der Phoneme zu Buchstaben nicht umgehbar“, weiß Velissaris aus Erfahrung. „Bei Lauten, die nicht gut unterschieden werden, können dann zugeordnete Bewegungen oder Gebärden helfen.“

Unabhängig vom Zugang geht es letztlich für alle Kinder darum, aus dem Lautieren und Erkennen einzelner Wörter ganzheitliches Lesen zu entwickeln. „Manche Lesebücher verwenden leider bald ein recht umfangreiches Vokabular, das den Wortschatz – speziell hörbeeinträchtigter Kinder – manchmal überschreitet“, kennt Velissaris eine Gefahr, „dass Kinder dann mechanisch lesen und nicht ins sinnerfassende Lesen kommen.“

Einfache Rebus-Rätseln animieren zum Spiel mit der Sprache.

Gut hören hilft beim Lesen lernen

„Bei einem meiner Kinder ist mir in der Ersten Klasse schon Ende Oktober aufgefallen, dass es trotz wiederholten Übens Probleme hatte, Buchstaben zu erkennen und den zugehörigen Lauten zuzuordnen“, erinnert sich Supper. Ursache können Probleme bei der Merkfähigkeit oder beim optischen oder akustischen Differenzieren sein. Letzteres hängt auch vom Hörvermögen ab. Die engagierte Pädagogin empfiehlt den Eltern betroffener Kinder eine zeitnahe Abklärung durch Spezialisten.

„Vermehrt aufpassen muss man nochmals in der Vierten Klasse, wenn die vier Fälle dazu kommen.“ Supper hat die Erfahrung, dass nicht nur Kinder mit Deutsch als Zweitsprache Formulierungen anbieten wie: „Gemma zu die Sessel.“ Reine Lautverschiebungen durch Mundart und Dialekt machen ihrer Erfahrung nach aber selten Probleme: „Wenn die Lehrkraft sehr korrekt spricht, übernehmen die Kinder rasch diese korrekte Aussprache.“ Vorausgesetzt natürlich, das jeweilige Kind kann die Laute und Phoneme hören und unterscheiden.

„Für Sprachen mit einem Alphabet“, wie im Deutschen, „unterstützt die Wahrnehmung der Phoneme im gesprochenen Wort auch das Verständnis für die Logik des geschriebenen Wortes“, erklärt Rehabilitationsspezialistin Shepherd. Wer einzelne Klänge eines Wortes auditiv unterscheiden und ihren Sinnbildern, den Buchstaben, zuordnen kann, der kann Wörter zumindest annähernd richtig schreiben. Für die Entwicklung korrekter Schriftsprache ist gutes Hörvermögen also wichtig. Für hörbeeinträchtigte Taferlklassler bedeutet das: Hörhilfen mit guter Klangqualität und individuell optimierter Einstellung sind wesentlich.

Shepherd vergleicht mit der Therapie älterer Kinder und Erwachsener, bei der das dann umgekehrt funktioniert: „Die Schriftsprache unterstützt dann das auditive Sprachverstehen.“

Bücher helfen lesen

„Viele Faktoren haben Einfluss darauf, wie gut Schriftspracherwerb gelingen kann“, erklärt Joanna Shepherd und nennt unter anderem die allgemeine Sprachentwicklung und -kenntnis, das auditive und visuelle Gedächtnis sowie die „phonologische Bewusstheit“. Darunter versteht man die Fähigkeit, Sprachbestandteile bewusst wahrzunehmen und zu differenzieren: Wörter in einzelne Silben und Laute zu zerlegen und umgekehrt aus diesen zusammenzusetzen. Die Wichtigkeit der phonologischen Verarbeitung der Sprachlautstruktur dokumentiert auch eine Studie der Grazer Entwicklungspsychologin Karin Landerl. [1]

Shepherd verweist auf zahlreiche Studien zum Schriftspracherwerb normalhörender und hörbeeinträchtigter Kinder [2]: „Gemeinsame Leseerfahrungen fördern wichtige Aspekte der Alphabetisierung.“ Gemeint ist, gemeinsam Bilder und Text nicht nur anzusehen und zu lesen, sondern auch zusammenzufassen und zu besprechen. [3]

Mit dem Finger zu zeigen, wo wir gerade lesen, macht Kindern bewusst, wie wir unsere Information aus der Schrift beziehen – und es hilft, das Schriftbild häufig verwendeter Wörter nach und nach wiederzuerkennen.

„Allgemein anerkanntes Ziel von Alphabetisierung ist ja das Lesen von Büchern“, so Shepherd. Schriftsprache ist darüber hinaus als Informationsträger im Alltag allgegenwärtig: Wo wir die Toilette finden, wann der nächste Bus kommt oder welcher Film im Kino gespielt wird. „Genau darauf sollten wir Kinder aufmerksam machen.“ Auch jüngere Kinder können das verstehen, ist die Psychologin sicher: „Alles um uns herum hat doch Labels! Ebenso können einzelne Begriffe durch geschriebene Wörter repräsentiert werden.“ Der eigene Name etwa, der Schriftzug des örtlichen Supermarkts oder ein häufig wiederholtes Wort im Bilderbuch.

Spaß mit Sprache!

Wer kennt nicht „Fischers Fritz“ – den, der die frischen Fische fischt? Bei diesem Zungenbrecher handelt es sich um eine sogenannte Alliteration, eine Wortgruppe mit identem Wortanfang. So gibt es zahlreiche Wortspiele für Kinder, allen voran natürlich Kinderreime. Shepherd erklärt die therapeutische Relevanz: „Kinder mit Höreinbußen verpassen manchmal einen Teil des Wortes. Wenn sie noch nicht so gut hören, verpassen sie oft den Beginn der Information. Wenn wir mit diesen Wörtern spielen und dabei Betonung auf Reim oder Alliteration legen, wird das Gehörte für diese Kinder klarer verständlich.“

Zudem ist es für den Schriftspracherwerb wichtig, dass Sätze in ihren Bestandteilen als Wörter, und diese als Silben und einzelne Klänge – sogenannte Phoneme, wahrgenommen werden. Nur dann können sprachliche Klänge als Buchstaben dargestellt und zu Wörtern und Sätzen zusammengefügt werden. Dieses Bewusstsein kann spielerisch erlangt werden.

So werden Kinderlieder zum Spiel, indem man einzelne Wörter auslässt und die Silben durch Klatschen oder Summen ersetzt: „Ein kleiner Matrose umsegelte die Welt…“, mutiert von Strophe zu Strophe zu: „Ein mm-mm Mm-Mmm-Mm m-m-m-m die Mmmm…“ – jeweils von passenden Handbewegungen begleitet. Einfache Rebus-Rätseln animieren zum Spiel mit der Sprache, wenn die als Zeichnung dargestellten Begriffe gemeinsam ein zusammengesetztes Wort ergeben: „Hand“ und „Schuh“ wird zu „Handschuh“. Für ältere Kinder kann ein Wort auf das einzelne Phonem, den einzelnen Klang im Wort heruntergebrochen werden oder später sogar einzelne Buchstaben enthalten, „streichen“ oder „ersetzen“.

Lesen und schreiben ganzheitlich gedacht

„Für viele Kinder sind Stifte zum Zeichnen heute nicht mehr selbstverständlich“, nennt Therapeutin Shepherd ein Beispiel für motorische Fähigkeiten, die den Schriftspracherwerb beeinflussen. Dabei sind Grob- und Feinmotorik sowie die Augen-Hand Koordination wichtige Vorbereitungen für das Schreiben. Supper ergänzt aus ihrer Erfahrung als Lehrerin an der Regelschule: „Einen Stift hält man ja mit nur drei Fingern – diese Muskulatur muss erst aufgebaut werden!“ Sie ist auch überzeugt, dass ein gelegentliches: „Bald wirst du das schon selbst lesen können!“ jedem Kind wichtige Motivation vermitteln kann.

Singen, spielen, zeichnen – die Lieblingsbeschäftigungen vieler Kinder können auf lustvolle Weise bestens auf den Schuleinstieg vorbereiten. Und einen Rat wiederholen die befragten Expertinnen immer wieder: „Wenn die Eltern vorlesen, ist das eine gute Vorbereitung.“


 5 Faktoren phonologischer Bewusstheit

  • An- und Ablaute erkennen
  • Reime und Alliteration finden: Wörter mit identem Wortende und -beginn
  • Silben trennen und zusammensetzen
  • Phoneme – die klanglichen Teile eines Wortes – trennen und zusammensetzen
  • Phonem-Buchstaben-Assoziation

Buchtipps

  • „Hören, lauschen, lernen“ – Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter. Würzburger Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf den Erwerb der Schriftsprache von Petra Küspert und Wolfgang Schneider, 7. Auflage – 2018, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN: 978-3525406502
  • „Das Sprachbastelbuch“ – Schüttelreime, Gedichte, Limericks, Sprachrätsel und vieles mehr. Von elf namhaften österreichischen Kinderbuchautoren, empfohlen für Kinder im Alter von 5 bis 9 Jahren, 7. Edition (2005), G&G Verlag, ISBN: 978-3707402773

Internet-Tipp

www.ohrenspitzer.de – Spiele und Ideen, um Hören und Zuhören neu zu entdecken.


[1]  Landerl, K. (2003). Kognitive Defizite bei Leseschwäche. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 50(4), 369-380.
[2]  Zum Beispiel: Aram et., The contribution of early home literacy activities to first grade reading and writing achievements in Arabic, Reading and Writing (2013) 26:1517-1536, DOI: 10.1007/s11145-013-9430-y
[3]  Siehe auch gehört.gelesen 1.2021, Seite 48. Hilfreiches Material: „Ein Tag mit Timo“, sowie die Murat-Bilderbücher – beides von MED-EL

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