Cochlea Implantat als Thema der vorwissenschaftlicher Arbeit
Immer öfter werden das Cochlea-Implantat und das Leben damit zum Maturathema, konkret zum Thema der Vorwissenschaftlichen Arbeit.
Nina Hafner maturiert im Juni 2021 am Bundesgymnasium und -realgymnasium im niederösterreichischen Bruck an der Leitha, die Beurteilung ihrer Vorwissenschaftlichen Arbeit hat sie schon vor Ostern erfahren: ein ‚Sehr gut‘. Ihre Arbeit titelte „Bildungsmöglichkeiten für Menschen mit Höreinschränkungen in der Sekundarstufe I in Österreich“.
Die Vorwissenschaftliche Arbeit, kurz: VWA, ist seit 2014/15 neben der schriftlichen und der mündlichen Prüfung Bestandteil der AHS-Matura. Laut Bildungsministerium sollen die Schüler dabei nachweisen, „dass sie über das notwendige Wissen und Können verfügen, sich zielführend in einer Informations- und Wissensgesellschaft zurechtzufinden.“ Die freie Themenwahl ermöglicht es interessierten Schülern, sich im Zuge der VWA auch mit Themen rund um Hören, Hörimplantate und dem Leben mit Hörverlust eingehend zu beschäftigen.
Die VWA fordert wissenschaftlich basierten Diskurs
Die angehenden Maturanten sollen für die Vorwissenschaftliche Arbeit zwischen Alltags- und wissenschaftlichem Wissen unterscheiden, recherchieren und Informationsquellen bewerten, Informationen vergleichen und verknüpfen – und zuletzt das erarbeitete Wissen verständlich und in wissenschaftlich korrekter Form darstellen: Wörtlich übernommene Texte müssen gekennzeichnet, Quellen für Zitate und Informationen korrekt angegeben werden.
Es genügt zwar, das Wissen aus passender Fachliteratur zusammenzutragen, doch sind Umfragen und wissenschaftliche Interviews gern gesehene Bestandteile der VWA. In einzelnen Fällen kann sie sogar praktische Arbeiten beinhalten, wie etwa physikalische Versuche oder grafische Arbeiten. Der Text sollte dabei zwischen 40.000 und 60.000 Schriftzeichen umfassen. Zum Vergleich: Eine Doppelseite dieses Magazins fasst rund 5.000 Zeichen. Die schriftliche Arbeit wird – außer während der aktuellen Covid-Pandemie – anschließend mündlich präsentiert und diskutiert. Eine positive Beurteilung der VWA ist Voraussetzung für das Antreten zu schriftlicher und mündlicher Maturaprüfung, die sich dann auf den schulischen Unterrichtsstoff beschränken.
Hören als Maturathema
Das Thema zur VWA muss keinem konkreten Unterrichtsfach zuzuordnen sein und kann frei formuliert werden, die Einhaltung einiger Grundregeln vorausgesetzt. So maturierten schon Schüler über die „Haltung und Aufzucht von Pfeilgiftfröschen im Terrarium“ oder zur Fragestellung „Werden Menschenrechtsverletzungen Saudi-Arabiens international ausreichend geahndet?“ Die niederösterreichische Schülerin Nina Hafner fühlte sich durch einen Zeitungsartikel über die Bildungssituation hörbeeinträchtigter Jugendlicher animiert, für ihre VWA zu diesem Thema zu arbeiten. Die fehlende Zuordnung zu einem Unterrichtsfach erwies sich anfangs aber als hinderlich – der Ethiklehrer hat schließlich die Betreuung der VWA übernommen.
Ein Jahr vorher war das für Florentine Kohout am BORG für Musik und Kunst kein Problem: „Mein Musikprofessor war Tontechniker und hatte dadurch Bezug zur Thematik.“ Sie beschrieb beim Thema „Die Weiterentwicklung von Hörgeräten bei hörbeeinträchtigten Kindern“ über konventionelle Hörgeräte und über Hörimplantate.
Schon 2014, bevor die VWA in Österreich eingeführt wurde, hatte Mariella Sturz im Zuge ihrer Matura am BG/BRG Klosterneuburg ihre Fachbereichsarbeit über „Psychosoziale Aspekte von Cochlea-Implantat-Trägern während der schulischen Ausbildung“ verfasst. Die freiwillige Fachbereichsarbeit war quasi der Vorläufer der VWA. Die fachliche Zuordnung – in diesem Fall zu Psychologie – war zwingend, die Betreuung durch die zuständige Professorin damit sichergestellt.
Mit CI an der Unterstufe
Nina Hafner beschreibt in ihrer Arbeit die Voraussetzungen für und über den möglichen Nachteilsausgleich bei schulischer Inklusion. „Die Lehrkräfte haben oft Schwierigkeiten, sich an die besondere Unterrichtssituation zu gewöhnen, da sie ihre Unterrichtsgestaltung auf die Bedürfnisse der höreingeschränkten Schülerinnen und Schüler anpassen müssen“, sieht sie Herausforderungen im Schulalltag. Interviews mit einer hochgradig schwerhörigen Schülerin mit Hörgeräten, die vor 20 Jahren die Unterstufe besuchte, sowie mit einer bimodal versorgten Schülerin der derzeit Zweiten Klasse stimmten die Maturantin zur Situation hörbeeinträchtigter Schüler trotzdem zuversichtlich: „Die hat sich in den letzten Jahren gebessert.“
„Beide mussten und müssen zuhause zwar viel nachschreiben und nachlernen“, so Hafner. „Beide sind auch auf visuelle Lautsprachperzeption“, also Lippenlesen, „angewiesen“, was eine sorgfältige Wahl des Sitzplatzes und die Rücksicht aller Beteiligten erfordert. Die Interviews zeigten aber: Die Mitschüler waren und sind sehr bemüht. Die aktuelle Notwendigkeit von MNS- oder FFP2-Masken an der Schule schafft zusätzliche Kommunikationsprobleme. Aber der Vergleich der Interviews zeigt, dass die Lehrkräfte heute viel besser auf die Bedürfnisse der hörbeeinträchtigten Schüler eingehen, als das vor 20 Jahren der Fall war.
Hafner rät aber: „Es sollte noch mehr Kontakt zwischen Lehrern, Eltern und Schülern geben.“ Sie appelliert auch an die Mitschüler, noch mehr Hilfe anzubieten.
Was bringt die VWA den Maturanten?
Der bilateralen CI-Nutzerin Mariella Sturz war die Situation mit CI an der Schule ja schon vor ihrer Fachbereichsarbeit nicht fremd, die größte Herausforderung beim Erstellen der Fachbereichsarbeit war daher: „mich erstmals in meiner schulischen Laufbahn mit wissenschaftlichem Arbeiten auseinanderzusetzen.“ Recherchieren, subsumieren und eine These aufstellen – diese Fertigkeiten konnte die angehende Juristin im Studium gut umsetzen. „Es ist aber auch im beruflichen und privaten Kontext von Vorteil, wenn man schon in diesem Alter die grundlegenden Kenntnisse für Aufbau und Gliederung einer schriftlichen Arbeit vertiefen kann.“
„Neben den fachlichen Kenntnissen habe ich aber auch einige persönliche Einsichten gewonnen. Die Arbeit hat sich ja mit psychosozialen Aspekten wie Identitätsfindung, Exklusion und Inklusion beschäftigt. Ich habe mich erstmals mit unangenehmen Exklusionserfahrungen aufgrund meiner CIs auseinandergesetzt und festgestellt, dass auch meine Interviewpartner solche Erfahrungen gemacht haben und ebenfalls daran gewachsen sind.“ Die ganze Familie habe sich vom Ergebnis der Arbeit auch bestätigt gefühlt: „dass eine frühe bilaterale CI-Versorgung in allen Lebensbereichen von Vorteil ist – insbesondere in meiner Situation, da ich aufgrund einer genetischen Erkrankung namens Usher Syndrom, die auch die Ursache meiner Taubheit ist, zusätzlich eine Sehbeeinträchtigung habe.“
„Sowohl fachlich als auch im Hinblick auf ein besseres Verständnis für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen“, hat auch Kohout, die jetzt Biologie studiert, aus der VWA gewonnen. „Aber auch im Hinblick auf das Erstellen wissenschaftlicher Arbeiten habe ich viel gelernt.“ Hafner, die ihre berufliche Zukunft im wirtschaftlichen Sektor sieht, pflichtet bei: „Das Bewusstsein, auf Schwierigkeiten bei Beeinträchtigungen achtzugeben – in jedem Lebensbereich.“
Offizielle Informationen zur VWA: www.ahs-vwa.at
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