Ein Bilderbuch über das Hören

Ein Bilderbuch über schlechtes Hören, übers Verstehen und Nichtverstehen und über gute Freunde.

„Willst du mit mir eine Hütte bauen?“, fragt Häschen. „O wie schön“, sagt Igel. „Ich geh gleich los und hole meinen Hammer.“ „Was hast du gesagt, Igel?“, fragt Häschen. Doch auch als Igel wiederholt, versteht Häschen ihn nicht. Der dreijährige Levin kann der Geschichte nicht länger ruhig zuhören. Laut schreit er: „Er holt den Hammer!!!“ Das Häschen in Bernadette Vermeijs und Gitte Spees Bilderbuch kann Levin natürlich ebenso wenig hören, wie es zuvor den Fuchs, das Eichhörnchen und den Igel versteht. So wie es hörbeeinträchtigten Menschen nicht hilft, wenn der Gesprächspartner schreit. Gut, dass Levins Mama „vom Fach“ ist. Sie erklärt ihm und seinem Bruder Liam, was Häschen beim Verstehen helfen kann und was nicht.

„Wir haben das Buch in erster Linie für schwerhörige und taube Kinder geschrieben. Es kann ein Anlass für betroffene Kinder sein, mit ihren Eltern oder Pädagogen über eigene Erlebnisse mit Missverständnissen und Kommunikationsproblemen zu sprechen“, erklärt Bernadette Vermeij. „Das Buch ist aber natürlich auch für hörende Kinder, um ihnen die Situation schwerhöriger Kinder bewusst zu machen.“

Häschen hat besondere Ohren: Sie sind schön, lang und weich. Aber er kann mit ihnen nicht gut hören. ©Gitte Spee/Moritz-Verlag

Ein Buch über „ganz besondere Ohren“

Bernadette Vermeij MA, geboren 1979 in den Niederlanden, lernte schon in der Grundschule das manuelle Alphabet kennen. Davon fasziniert, studierte sie Linguistik mit Schwerpunkt Gebärdensprache und Sprachstörungen und schloss die Ausbildung zur Sprachtherapeutin an. Nach acht Jahren Arbeit mit hörbeeinträchtigten Vorschulkindern ist sie heute Wissenschaftlerin der Foundation for Deaf and Hard of Hearing Children NSDSK in Amsterdam.

Bei der Arbeit mit den Kindern war ihr die Idee zur Geschichte Wir bauen eine Hütte gekommen, die sie dann 2019 mit der in den Niederlanden bekannten Kinderbuchautorin und -illustratorin Gitte Spee umsetzte. Heuer ist die deutschsprachige Ausgabe des Bilderbuchs erschienen. Es erzählt die Geschichte über einen Hasen, der nicht oder nicht gut hört. Er will mit seinen Freunden eine Hütte bauen. Doch was seine Freunde von der Idee halten, das kann er wegen seiner Hörprobleme nicht verstehen und nur mit einiger Geduld an ihrer Reaktion beobachten.

Ein Buch, das Fragen aufwerfen soll

Die Geschichte wirft Fragen auf, auf die vorlesende Erwachsene unbedingt eingehen sollten. Dazu genügt es an mehreren Stellen aber nicht, aufmerksam zu lesen: Verwirrend etwa, dass Häschens Ohren einmal schlecht hören, einmal gar nicht hören. Ungewöhnlich auch, dass Häschen trotz dieser Hörprobleme für andere verständlich sprechen kann. Autorin Vermeij erklärt, die manchmal nicht ganz eindeutige Darstellung sei Absicht, um alle kleinen schwerhörigen und tauben Leser gleichermaßen anzusprechen. Beim gemeinsamen Lesen fordert diese Weite aber mitunter das Wissen und die Vermittlungsgabe der vorlesenden Erwachsenen heraus.

Die Illustrationen von Gitte Spee sprechen die Emotionen an – und stellen sie deutlich dar: So ist Häschen die Trauer und Einsamkeit anzusehen, als es nicht versteht, warum alle weggehen und es allein zurücklassen. Es ist eine Herausforderung, gemeinsam mit den Kindern beim Lesen Ideen zu entwickeln, wie die Kommunikation mit Häschen besser gelingen könnte: Wie wird es nicht mit einer Vertröstung abgespeist, sondern erfährt volle Information und damit volle Teilhabe? Vermeij sieht darin auch eine Möglichkeit für betroffene Kinder, selbst zu artikulieren, was ihnen persönlich beim Verstehen am besten hilft: langsames Sprechen, Betonung, Ansehen, Mimik und Gestik, Gebärden oder anderes. Entsprechende Vorschläge bleibt das Buch schuldig.

So akzeptiert sein, wie man ist

Was aus Spees Zeichnungen auch spricht, ist der wohlwollende Umgang aller Tiere miteinander. Einander zu akzeptieren, wie sie sind. „Alle Tiere finden Häschen nett, weil es sie einlädt mitzumachen. Als Häschen sie nicht versteht, schenken sie ihm etwas, um ihre Zuneigung zu zeigen: eine Umarmung, einen Kuss oder eine Blume. Das kann Häschen verstehen”, erklärt Vermeij ein Verhalten, das gerade auch bei kleineren Kindern typisch ist. „Was den Bau der Hütte betrifft, versteht Häschen seine Freunde tatsächlich nicht, bis er sieht, dass die Tiere zurückkommen.“ Die Autorin möchte den kleinen Lesern damit unterschiedliche Möglichkeiten zur Kommunikation ebenso bewusst machen, wie die möglichen Quellen für Missverständnisse. Bei einer Lesung sei die Geschichte sogar Anlass gewesen, den Unterschied zwischen „nicht hören“ und „nicht zuhören“ zu erklären.

Auf der letzten Seite kommt es zu einer Situation, in der Häschen von seinen Hörproblemen sogar profitiert: Als es als einziges Tier trotz Fuchs´ lauten Schnarchens ungestört schlafen kann. Der fünfjährige Liam kommentiert: „Jetzt wollen alle taub sein.“ „Das Buch ist ein Einstieg ins Thema“, schätzt seine Mutter: „Aber nur als erste Basis.“ Weitere Vorschläge für besser gelingende Kommunikation wären ein Gewinn für die Geschichte. Eltern oder Aufsichtspersonen, die mit Hörproblemen und dem Umgang damit noch nicht vertraut sind, sollten sich vor dem Vorlesen unbedingt entsprechend informieren!


Bernadette Vermeij, Gitte Spee: Wir bauen eine Hütte!
Hardcover Bilderbuch für Kinder ab 5 Jahren,
aus dem Niederländischen von Christian Golusda
Moritz Verlag, Frankfurt am Main, 2021
ISBN 9783895654060

Bilderbuch_Vermeij, WIR BAUEN EINE HÜTTE ©Gitte Spee/Moritz-Verlag

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