Schwerhörigenschule in Wien feiert Geburtstag
Das Sonderpädagogische Zentrum – Schwerhörigenschule Wien feiert sein 100-jähriges Bestehen. Sabine Graf, Lehrerin für Deutsch und Geschichte, und Sonderschullehrerin Sibylle Hirschl unterrichten gemeinsam eine Integrationsklasse der Mittelschulstufe und wissen von gewonnenen Schulbewerben, von Kreativprojekten und von langjährigen Erfahrungen mit Integrationsklassen.
Hirschl: Die Schwerhörigenschule, kurz: SHS, war am früheren Standort in der Waltergasse der direkte Nachbar der Volksschule Graf Starhemberggasse. Unsere heutige Direktorin Michaela Lechner hat damals als Integrationslehrerin der SHS begonnen: Sie hat ein schwerhöriges Kind in einer Klasse der Volksschule betreut. 1991 unterrichteten dann Michaela Lechner, gemeinsam mit Maria-Luise Braunsteiner, und ich gemeinsam mit einer anderen Kollegin die beiden ersten präventiven Integrationsklassen an der SHS.
Für die präventiven Integrationsklassen war die Schülerhöchstzahl damals 15, davon durfte maximal die Hälfte der Kinder hörsprachbeeinträchtigt sein. Man hat davon gesprochen, die normalhörenden Kinder zu integrieren, die jetzt ja an eine Sonderschule gingen.
Graf: Heute haben wir in unserer Integrativen Klasse in der Mittelschule 22 Kinder; Klassenhöchstzahl wäre 25, davon sechs hörsprachbeeinträchtigte Kinder. Bis vor zwei oder drei Jahren waren es maximal 18 Kinder pro Klasse. Das ist ein Unterschied, wenn sechs Kinder mehr in der Klasse sitzen.
Die SHS ist auch am aktuellen Standort im gemeinsamen Gebäude mit einer Regelvolksschule. Zudem geht der Trend in Richtung Inklusion hörbeeinträchtigter Kinder an Regelschulen. Was spricht trotzdem für einen Besuch der SHS?
Graf: Wir empfehlen uns, weil wir auf Hörprobleme geschult sind. Es gibt ja Kinder, die stecken ihr Hörgerät erst ins Ohr, wenn sie in die Schule kommen – nur weil sie in der Straßenbahn nicht als hörbeeinträchtigt erkannt werden wollen. Zu sagen, dass sie etwas nicht verstanden haben, ist diesen Kindern sehr unangenehm, besonders in der Pubertät. Durch Erfahrung und geschulte Fragen merken wir aber, wenn das Kind einiges nicht mitbekommen hat.
Hirschl: Wir sollten vielleicht schon bei den räumlichen Voraussetzungen für gute Akustik anfangen. Ich war fast zwanzig Jahre im mobilen Dienst und habe hörbeeinträchtige Schüler an Regelschulen betreut. Ich weiß daher, um wie viel leiser unsere Schule ist. Das beginnt mit dem Pausenklingeln, das hier nicht so schrecklich laut ist. Dafür haben wir zusätzlich ein blinkendes Licht als optisches Pausenläuten. Graf und Hirschl zeigen Akustikpaneele und spezielle Plafonds in den Klassenräumen, und Hirschl ergänzt: Auch sonst ist es bei uns ruhiger. Für Schwerhörige ist Lärm nämlich sehr unangenehm.
Dann arbeiten wir im Unterricht auch mit FM-Anlagen. Anm. der Red.: FM-Systeme erleichtern das Sprachverstehen im Unterricht. Die SHS stellt die Systeme zur Verfügung, während Eltern von Schülern an Regelschulen sich oft selbst um die Anschaffung kümmern müssen.
Für manche Familien ist es auch hilfreich, dass die Betreuung der Hörgeräte unserer Kinder hier im Haus durchgeführt werden kann, weil Hörgeräteakustikerin Heidi Neuroth einmal pro Woche zu uns kommt. Anm. der Red.: Das Service-Angebot von Neuroth erstreckt sich neben Hörgeräten auch auf Audioprozessoren von MED-EL-CIs und -Hörimplantaten.
Hirschl: Wir unterrichten im sogenannten Klassenlehrersystem: Viele Gegenstände unterrichten wir in unserer Klasse selbst. Wenn in einem Gegenstand ein anderer Lehrer kommt, sind wir meist als zweite und dritte Lehrkraft dabei.
Graf: Mit dem Klassenlehrersystem geht es bei uns in der Mittelschule quasi weiter wie in der Volksschule: Wir sind auch in der Pause da, wir sind Ansprechpersonen für die Kinder, kennen sie und ihre Eltern und haben eine gute Beziehung zu ihnen.
Hirschl: Als mobile Lehrerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass es bei manchen Lehrern wirklich schwer ist, sie auf die Probleme eines schwerhörigen Kindes zu sensibilisieren. Ein Lehrer, der nur eine Stunde pro Woche in der Klasse ist, kann Probleme nicht so erkennen. Viele denken, wenn ein Kind seine Aufgaben macht und nicht stört, dann hört es wohl ganz normal.
Graf: Jetzt wird zum Beispiel eine bilateral implantierte Schülerin der zweiten Klasse AHS zu uns wechseln, deren bisherige Mathematiklehrerin dem Mädchen jeden Nachteilsausgleich verweigerte. Die Lehrerin meint, wenn das Mädchen etwas hört, muss sie auch alles verstehen. Als die Schülerin jetzt zum Kennenlernen hier an der SHS war, hat sie im Gespräch immer wieder nachgefragt. Uns war also bald klar, dass sie nicht alles versteht – weil wir darauf geschult sind, das zu beobachten.
Hirschl: Es ist auch wirklich sehr schwierig, als Elternteil an die Schule zu gehen und einzufordern, was meinem Kind zusteht. An Regelschulen kann das notwendig sein.
Man darf das aber natürlich nicht über einen Kamm scheren: Viele schwerhörige Kinder kommen an der Regelschule super mit! Trotzdem hat auch so ein Kind bei uns an der Schule den Vorteil, dass es hier nicht allein ist als einziges schwerhöriges Kind in der Klasse.
Welche Vorteile bietet die SHS normalhörenden Schülern?
Graf: Auch da gilt: Wir sind familiär und haben durch das Klassenlehrersystem ein anderes Verhältnis zu den Kindern.
Hirschl: Der Druck ist ein geringerer und trotzdem kann das Kind im Anschluss an eine weiterführende Schule wechseln.
Graf: Wir sind immer zwei Lehrkräfte in der Klasse. Als Spartenschule haben wir auch ein Stundenkontingent zur Förderung der einzelnen Schüler zur Verfügung und können so noch intensiver mit den Schülern arbeiten.
Manche Eltern fürchten, in Integrationsklassen sei das Unterrichtsniveau weniger anspruchsvoll als an der Regelschule. Gehen tatsächlich Absolventen der SHS weiter an höhere Schulen?
Hirschl: Ja, natürlich. Wir wissen, an welchen Schulen schwerhörige Schüler gerne aufgenommen werden und wo es auch entsprechend geschulte Lehrkräfte gibt. Betreut werden die Schüler dann vom BIG, dem Bundesinstitut für Gehörlosenbildung.
Graf: Auch die hörenden Kinder kennen wir so gut, dass wir Kinder und Eltern gut beraten können, welche weiterführende Schule für das jeweilige Kind gut passen wird.
Hirsch (schmunzelt): Mit dem letzten vierten Jahrgang der Integrationsklasse haben wir sogar die Bewerbungsmappen gemeinsam erstellt.
Graf: Gerade diese Schüler unserer letzten Klasse haben auch gezeigt, dass sie sich durchaus mit Schülern anderer Schulen messen können. Die haben in einem Jahr gleich zwei Schulwettbewerbe gewonnen: den österreichweiten Chemie-Wettbewerb und den Starke Schule Award für unser Theaterprojekt.
Das Theaterprojekt der SHS gehört auch zu den offiziellen Schulschwerpunkten.
Graf: Das ist eigentlich ein jährliches, fächerübergreifendes Gemeinschaftsprojekt unserer Klasse mit Theater, Trommeln und Tanz, bei dem jeder seinen Platz findet – nicht nur auf der Bühne: Der eine kann besser schminken, der andere schneidet die Musik. Unser Rafi ist ein Technik-Freak – er bedient unser technisches Equipment: die Beleuchtung und so weiter. Wir malen auch die Bühnenbilder gemeinsam, nähen die Kleider; sogar die Texte schreibe ich selbst. Wir haben mit den teilnehmenden Kindern jede Woche zwei Extrastunden am Nachmittag zur Verfügung, in der intensiven Probenzeit dürfen wir zusätzlich einzelne Stunden am Vormittag nützen.
Während dieser Projekte haben wir bei den Kindern schon tolle Entwicklungen beobachtet, auch in puncto Sprachentwicklung. Wir lassen das Theater deswegen auch in Deutsch einfließen, denn Sprechen ist ja ein wichtiger Teil von Deutsch.
Die SHS Wien besteht im September exakt seit 100 Jahren. Erster Standort war in der Waltergasse im 4. Bezirk, Wien-Wieden, nur einen Steinwurf entfernt vom damaligen Standort des Taubstummeninstituts, dem Vorläufer des heutigen Bundesinstituts für Gehörlosenbildung BIG.
Hirschl: Die SHS war aber immer lautsprachlich orientiert. Akzeptiert war nur der unterstützende Einsatz eines sogenannten phonembestimmten Manual-Systems PMS, das sind spezielle Handbewegungen für einzelne Laute. Aber Gebärdensprache und auch Lautsprachbegleitende Gebärden wurden prinzipiell nicht verwendet. Das sieht man heute nicht mehr ganz so streng.
Früher bedeutete lautsprachlicher Unterricht für unsere Schüler Lippenlesen. Die Entwicklung der ersten Hörgeräte hat da vieles verändert. Stellen Sie sich das vor: In der Anfangszeit der Hörgeräte hat ein Hersteller der Schule ganze zwei Geräte, damals große Taschengeräte, zur Verfügung gestellt – zur Erprobung im Artikulationsunterricht!
Was hat sich, neben der Schülerhöchstzahlen in Integrationsklassen, in den 100 Jahren SHS verändert?
Hirschl: Die SHS Wien wurde mit dem Jahrgang 1921/22 als vierjährige Schule gegründet, im Schuljahr 1924/25 wurde sie zu einer achtjährigen Schule erweitert. Heute geht sie von der Vorschule bis zum Polytechnischen Lehrgang. Mit dem benachbarten Kindergarten gibt es gute Kontakte, dort werden einige schwerhörige Kinder betreut.
Die nächste, große Veränderung war die Übersiedlung 1996. Ich habe vor meiner Elternkarenz noch am ursprünglichen Standort unterrichtet, zum Ende meiner Karenz waren wir schon hier im 22. Bezirk. Das war natürlich eine wesentliche Veränderung: Einerseits vom Stadtzentrum nahe der Karlskirche hierher. Das war damals ja noch Peripherie. Anm. d. Red.: Die Anbindung an das U-Bahnnetz erfolgte erst 2013 mit der U2-Verlängerung. Andererseits haben wir hier ein modernes, großes Gebäude, mit Sportplatz und großer Wiese. Die nahe Lobau bietet sich für Ausflüge an.
Auch unser Team ist mit dem Umzug gewachsen. Wir sind mit der Mittelschule hier im dritten Stock, Vor- und Volksschule sind in den Stockwerken darunter. Mit Schulwart und Küche sind wir jetzt insgesamt an die 120 Mitarbeiter. Hirschl lacht: Jetzt kann es schon vorkommen, dass ich im Stiegenhaus jemanden treffe, den ich noch nicht kenne. Und dann stellt sich heraus, das ist die Kollegin, die schon seit zwei oder drei Monaten hier arbeitet. Sie seufzt: Besonders jetzt, seit Corona eine gemeinsame Konferenz aller Lehrkräfte der SHS unmöglich macht.
Als Stärke der SHS haben Sie schon das Schulgebäude genannt, das für optimale akustische Bedingungen konzipiert ist. Wurde auch das mit diesem Neubau möglich?
Hirschl: Ja, natürlich. Bei der Planung des Gebäudes haben einzelne Lehrkräfte mitgewirkt. Das hat sich in der akustischen Ausstattung niedergeschlagen, aber auch in einer anderen Besonderheit: Wir haben hier nämlich einige Klassen mit einem Extraraum, der ursprünglich nur durch eine Glaswand abgetrennt war. Dort sollten Gäste, zum Beispiel Pädagogen aus dem Ausland, zuhören können, ohne die Kinder zu stören.
Graf (seufzt): Ich habe zu Beginn meiner Lehrtätigkeit in so einer Klasse unterrichtet. Diese Glasscheiben waren leicht verspiegelt. Das war für uns ein eher gespenstisches Gefühl: Wir haben dann die Glasscheiben mit unzähligen Stickern verklebt.
Hirschl: Jetzt sitzen hospitierende, also zuschauende Pädagogen einfach im hinteren Teil der Klasse.
Zuletzt wurde die Zuständigkeit für die mobilen Lehrer zur Betreuung hörsprachbeeinträchtigter Kinder an Wiener Regelpflichtschulen verlegt, von der SHS zur Sprachheilschule.
Hirschl: Vielleicht ist ein Umstieg vom Unterricht in der Klasse zum mobilen Dienst, oder umgekehrt, für uns jetzt nicht mehr so einfach. Oder zu splitten: In einer Klasse zu unterrichten und parallel einige Kinder ein paar Stunden pro Woche mobil zu betreuen.
Aber die Kolleginnen der mobilen Betreuung waren auch früher nicht physisch hier an der Schule, sondern immer bei den Kindern an den Regelschulen. Daher hat sich damit für uns sonst nichts geändert.
Die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der SHS waren ursprünglich ab Herbst 2020 geplant, mussten pandemiebedingt aber verschoben werden?
Hirschl: Wir hoffen auf Frühling 2022. Geplant ist ein Festakt sowie eine Fachkonferenz mit Vorträgen und Teilnehmern auch aus Deutschland und der Schweiz.
Graf: Und wir möchten natürlich auch ein Theaterstück vorbereiten: eine Zeitreise.
Wir sind gespannt und wünschen gutes Gelingen! gehört.gelesen wird über Termin und Programm informieren.
Schwerhörigenschule Wien
Hammerfestweg 1
1220 Wien
Vorschule bis Polytechnische Schule, optionale Nachmittagsbetreuung
Präventive Integrationsklassen oder Schwerhörigen-Kleinklassen, sowie Sonderschulklassen für Schüler mit weiterem Förderbedarf
Besondere Schwerpunkte: Motopädagogik und Bewegtes Lernen, Fußball, Kreativschwerpunkt mit Wandmalerei, Theater, Trommeln und Tanz
350 schwerhörige und normalhörende Schüler, 90 Pädagogen
Mit Übungen leichter Lesen lernen
Lesen und Schreiben sind Schwerpunkte der Volksschulzeit und Basis späterer Bildung. Optimal eingestellte Hörsysteme, Übungen zur Lautdifferenzierung und entsprechende Motivation zum Lesen helfen hörbeeinträchtigten Taferlklasslern.
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