Cochlea Implantate und Lebensqualität

Dr. Ruth Zöhrer hat Medizin studiert und ein Doktorat in Biologie abgeschlossen. Jetzt ist sie mit Studien beschäftigt, die unter anderem messen, wie Hörimplantate die Lebensqualität der jeweiligen Nutzer beeinflussen.

Als Wissenschaftlerin arbeitete die geborene Steirerin Dr. Ruth Zöhrer am Ludwig-Boltzmann-Institut, sowie an renommierten Universitäten in Australien und den USA in der medizinischen Grundlagenforschung zu Knochen und Gelenken. Dann suchte sie einen Arbeitsbereich in der Industrie, bei dem sich wissenschaftliche Erkenntnisse konkret in der Lebensqualität ihrer Nutzer widerspiegeln. Sie entschied sich für die translationale Forschung im Bereich Hörimplantate. Mit ihrer Kenntnis über bereits publizierte Arbeiten und aktuelle Technologien sowie dem Wissen über neueste Anwendungen beiHörsystemen unterstützt sie Wissenschaftler und Kliniker bei ihren akademischen Studien.

Ich finde unsere Arbeit so erfüllend, weil wir das Leben der Menschen mit Hilfe von Hörimplantaten nicht nur – wie in vielen anderen medizinischen Disziplinen – um ein paar Wochen oder Monate verlängern können, sondern weil diese Technologie ihnen ein relativ normales Leben ermöglicht. Damit schenken wir Lebensqualität.

Was ist Lebensqualität?

Eine gute Frage! Es kommt auf den Blickwinkel an. Mein persönlicher Begriff von Lebensqualität bedeutet, das zu machen, was Spaß macht. Eine gute Gesundheit ist dafür die Voraussetzung. Aufgaben zu haben, die mir Freude bereiten und bei denen auch die Work-Live-Balance nicht zu kurz kommt; und gute soziale Kontakte zu pflegen – sowohl in der Arbeit als auch im Privatbereich. Das ist auch, was unsere Nutzer sich wünschen – und für all das benötigen wir möglichst uneingeschränkte Kommunikationsfähigkeit.

Wenn Gesundheit dabei nur ein Teilaspekt ist, warum bezieht man sich trotzdem auch bei wissenschaftlichen Studien in der Medizin auf die Lebensqualität?

Der Begriff der Lebensqualität wird seit den 1920er-Jahren verwendet: erst nur in der Politik, später auch in der Psychologie und der Soziologie. In der medizinischen Forschung ist Lebensqualität erst seit 50 oder 60 Jahren ein Faktor. Man hat festgestellt, dass herkömmliche Messungen – in unserem Bereich zum Beispiel Audiogramme oder Sprachtests – nicht immer widerspiegeln, wie es den Patienten tatsächlich geht. Ein Patient kann trotz guten Sprachverständnisses das Gefühl haben, dass er schlecht hört, wenig versteht und nicht kommunizieren kann. Deswegen ist auch die subjektive Abklärung der Messungen von Bedeutung.

Wenn es um Lebensqualität geht, sollte man den Fokus nicht auf eine Krankheit legen, auf eine zu verbessernde Kondition. Lebensqualität muss immer umfassend und differenziert betrachtet werden. Wenn jemand einen Hörverlust hat und wieder hört, wird die- oder derjenige auf Fragen dazu gewiss mit einem Anstieg an Lebensqualität reagieren. Wir möchten aber die Auswirkungen einer Intervention sehen, wenn man alle Dimensionen von Lebensqualität einbezieht – und dabei ist bestimmt für jeden anderes wichtig: Ein Sportler wäre todunglücklich, wenn er nicht mehr mobil wäre, mit dem Sport aufhören, pausieren oder deutlich zurückstecken müsste. Für mich wäre Immobilität schlimm, weil ich nicht mehr so einfach in die Natur hinausgehen könnte – auch das hat mit Mobilität zu tun, ist aber ein ganz anderer Fokus.

Hat Lebensqualität aus medizinischer Sicht denn Relevanz?

Sicher! Es ist schließlich wichtig, wie es dem Patienten ganzheitlich – auch emotional – geht, und nicht nur, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es kommt vor, dass ein Patient mit Beschwerden kommt, der Arzt die Ursache dafür spontan aber nicht feststellen kann. Ein guter Arzt wird hinterfragen, warum seine objektiven Messungen nicht mit dem subjektiven Empfinden des Patienten übereinstimmen.

Man kann Lebensqualität auch vom Aspekt der Ökonomie, der Wirtschaftlichkeit, aus betrachten. Wenn jemand glücklich ist, mit subjektiv hoher Lebensqualität, wird er wahrscheinlich mehr Geld ausgeben. Und er wird dem Gesundheitssystem weniger Kosten verursachen. Es gibt unterschiedlichste Messfaktoren, die man in ökonomische Modelle umrechnen und so Kosten-Nutzen-Rechnungen erstellen kann.

Inwiefern haben solche ökonomischen Gesichtspunkte Auswirkung auf unser Gesundheitssystem?

Anhand der Lebensqualität kann man eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung für bestimmte Behandlungen anstellen. Man gibt dabei jedem gewonnenen Jahr mit einer gewissen Höhe an Lebensqualität einen Zahlenwert. Ein Beispiel wäre das QALY. Die Abkürzung steht für „quality-adjusted life-year“, auf Deutsch: qualitätskorrigiertes Lebensjahr. Dabei wird die Quantität der erwartbaren Lebensjahre nach einer Maßnahme mit der Qualität dieser Lebensjahre multipliziert, die Qualität angegeben zwischen Null und Eins. Wenn ein Tumorpatient drei Monate Lebenszeit gewinnt, ist das QALY weniger, als wenn ein sechs Monate altes Baby das gesamte Leben vor sich hat. Die Kosten-Nutzen-Rechnung für eine oft teure Krebstherapie ist niedriger als die Einmalkosten für die Cochlea-Implantation bei einem Kleinkind.

Meines Wissens spielen in Österreich solche Überlegungen bisher keine Rolle, aber in Australien zum Beispiel muss für die Kostenübernahme eines Behandlungsverfahrens eine Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt werden. Das mag seine Berechtigung haben, aber ich möchte ehrlich gesagt nicht diejenige sein, die gerade beim Beispiel Tumorerkrankung die Entscheidung über eine Behandlung aus finanziellen Gründen treffen muss! Sobald man Gesundheit einen monetären, finanziellen Wert geben muss, wird es sehr traurig.

Kann man Lebensqualität denn überhaupt messen?

Kurz gesagt: Ja – jedoch mit einem großen Aber. Gerade wenn es um Studien im Bereich Hörimplantate geht, müssen wir vorher auch überlegen und definieren, was genau wir wissen wollen.

Es gibt zum Beispiel gesundheitsspezifische Fragebögen, die speziell auf die im Hintergrund liegende Krankheit eingehen: darunter auch sehr viele hörspezifische Fragebögen. Dass die Intervention eines Cochlea-Implantats oder eines anderen Hörimplantats eine Verbesserung beim Hören bringt, das würde ich bei 99,9 Prozent der Patienten voraussetzen. Deswegen halte ich diese Fragebögen für wenig aussagekräftig. Ich empfehle immer die allgemeine Lebensqualität abzufragen – einen Fragebogen mit Fragen zur „Hörqualität“ würde ich zusätzlich einsetzen.

Viele Fragebögen sind nur in gewissen Sprachen verfügbar und damit nicht international einsetzbar. Für den internationalen Vergleich brauche ich einen Fragebogen, der in möglichst viele Sprachen übersetzt ist.

Gibt es einen Fragebogen, der Lebensqualität umfassend und international vergleichbar misst?

Es gibt einige, aber mein Lieblingsfragebogen ist der AqoL aus Australien, der auch in unwahrscheinlich vielen Sprachen validiert ist. AqoL steht für Assessment of Quality of Life, auf Deutsch: Bewertung der Lebensqualität. Der AqoL deckt meiner Meinung nach so gut wie alle Dimensionen des Lebens ab: vom Hören und anderen Sinneseindrücken, über Fragen zu Schmerzempfindungen oder zu Mobilität, bis zu sozialen Interaktionen. Zu den sozialen Interaktionen gehören nicht nur Freunde, sondern auch sexuelle Interaktionen – auch das ist eine Frage bei diesem Fragebogen. An den Kliniken hat man oft Skrupel danach zu fragen… Zöhrer schmunzelt. Dann wird sie wieder ernst und ergänzt: aber das ist ein wichtiger Bereich – manchen Menschen wichtiger als anderen, aber insgesamt wichtig. Dieser Fragebogen besteht in der Vollversion aus 34 Fragen und spiegelt die Lebensqualität wider – unabhängig von einer individuellen Erkrankung oder Beeinträchtigung.

Das bedeutet, man kann damit die Lebensqualität von jemandem mit Hörverlust vergleichen mit der Lebensqualität von Menschen nach einer Hüftoperation oder jener von einem krebskranken Patienten, der sich einer Chemotherapie nach der anderen unterziehen muss.

Trotz der 34 Fragen ist der AqoL noch immer einer der kürzeren Fragebögen dieser Art und damit auch relativ rasch ausfüllbar. Wenn man die Situation vor und nach der Intervention – zum Beispiel einer Cochlea-Implantation – abfragt, sieht man die Auswirkung dieser Intervention. Die Auswertung erfolgt auf einer Skala von Null bis Eins. Null wird dem Tod gleichgesetzt – wieder schmunzelt Zöhrer – so schlecht geht es zum Glück nie jemandem. Eins wäre kerngesund und sehr zufrieden, was aber nicht einmal gesunde Befragten aufweisen. Man kann das Ergebnis hörbeeinträchtigter oder tauber Menschen im unversorgten Zustand und mit Hörsystem vergleichen, aber auch mit dem Ergebnis normalhörender, gesunder Menschen: Es gibt Vergleichsdaten normaler, gesunder Menschen, unterteilt in Altersgruppen und Geschlechtsgruppen.

Wie entwickelt sich Lebensqualität denn im Lauf des Lebens?

Jugendliche erwarten zwar viel vom Leben, sind dabei aber recht zufrieden. Auch Menschen zwischen 40 und 60 weisen hohe Lebensqualität auf. Mit zunehmendem Alter häufen sich dann aber Probleme, die sich auch auf die Lebensqualität auswirken – dazu zählen nicht nur gesundheitliche Probleme, sondern auch eingeschränkte Mobilität oder nachlassende soziale Interaktionen auch im Zusammenhang mit steigenden Hörproblemen.

Wenn wir CI-Nutzer fragen, so bewerten sie die Bereiche Kommunikation und soziale Aspekte vor der Operation in der Regel sehr schlecht. Nach der Operation steigen die Werte meist sprunghaft, oft über jene von Normalhörenden: Das Nicht-Hören hatte offenbar einen so gravierenden Einfluss auf ihr Leben, dass die Lebensqualität nach der Aktivierung mehr geschätzt wird. Über einen längeren Zeitraum beobachtet man dann aber ein Abflachen und die Zufriedenheit geht wieder leicht nach unten – das Hören ist dann schon gewohnt und offenbar vergessen viele, wie schlimm es ohne Hören war.

Das ist ein typisches Verhaltensmuster und wird auch als Kano-Modell oder Handy-Effekt bezeichnet: Wenn eine hohe Erwartungshaltung erfüllt wird, steigt die Zufriedenheit sprunghaft an, pendelt sich dann aber ein: Wenn du ein neues Smartphone bekommst, bist du meist auch begeistert über die neuen Apps und Möglichkeiten. Innerhalb kürzester Zeit gewöhnst du dich aber daran.

Wie aussagekräftig können solche subjektiven Fragebögen dann überhaupt sein?

Aussagekräftig genug, dass die Lebensqualität mittlerweile als eigenständiges Gesundheitsziel und wichtiger Parameter zur Beurteilung einer sinnvollen und effektiven therapeutischen Intervention angesehen wird. Wichtig zu beachten ist, dass die Ausgabe des Fragebogens abhängig von der jeweiligen Tagesverfassung ist: Wenn ich gerade knapp einem Unfall entgangen bin oder vom Zahnarzt komme und noch Schmerzen habe, werde ich den Fragebogen anders ausfüllen, als wenn ich gerade die Information über einen Lottogewinn bekommen habe. Man kann aber sagen, dass sich auch das subjektive Befinden des Patienten, gemessen als Lebensqualität, als zusätzliches Kriterium für einen Therapieerfolg immer mehr etabliert.

Ich persönlich bin der Meinung, dass die Erwartungshaltung an das Leben die Lebensqualität stark beeinflusst. Mein persönliches Motto ist: Wertschätzung und Achtsamkeit für das, was ich habe und wie ich anderen begegne, um meine Zufriedenheit und somit meine Lebensqualität zu steigern.

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