Vom Reichtum des Lebens und vom Umgang mit Einschränkungen und Schmerz
Nicht nur Hörprobleme verschärfen sich im Alter, auch die Frage nach gutem Leben und Lebensqualität spitzt sich gerade am Lebensende nochmals zu. Mag. Christa Steiner hat in Pflegeheim und Hospiz Menschen in der letzten Lebensphase begleitet; wir haben nach ihren Erfahrungen gefragt.
Was mir dabei zuerst einfällt: Ich bin im Pflegeheim oder Hospiz (Anm. d. Red.: stationäre Pflegeeinrichtung, an der Sterbebegleitung angeboten wird) so oft Menschen begegnet, die resümierend sagten: „Aufs Ganze gesehen: Ich habe ein gutes Leben gehabt!“ Das waren oft Menschen im Rollstuhl oder bettlägerige Menschen, oft vielfach eingeschränkt! Jemand wie ich – mit einem bunten, abwechslungsreichen Leben mit vielen Möglichkeiten – kann das aufs Erste gar nicht glauben!
Unser Bild vom gelingenden Leben verbindet sich üblicherweise mit Begriffen wie: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, vernunftgeleitetes Denken und Handeln. „Das ist ja kein Leben (mehr)“, hört man dann oft angesichts von pflegebedürftigen alten oder kranken Menschen. Dieser Aussage nachzuspüren kann uns auf die Spur unserer – vermutlich meist unbewussten – Annahmen, Prioritäten und Werte bringen: Was ist ein gutes Leben?
Was würden Sie demgemäß als grundlegende Voraussetzung für gutes Leben betrachten?
Es geht nicht um eine bestimmte Voraussetzung, sondern um die Kraft, das Leben als gut wahrzunehmen! Ich möchte Sie dazu zu einem Gedankenexperiment einladen. Fragen wir uns selbst einmal: Was macht mein Leben aus? Mein Beruf, meine Familie, meine Hobbys – was sonst noch alles?
- Geben wir diesen Dingen eine Rangordnung.
- Worauf davon könnten wir vielleicht auch verzichten?
Jetzt stellen wir uns vor, durch einen Schicksalsschlag oder durch das Alter wird von diesen Dingen etwas weggenommen, oder auch alles. Wer bin ich dann noch? Eine nicht einfache Vorstellung!
Mir scheint wichtig, dass Menschen jeweils aufs GANZE ihres Lebens zurückblicken. Bilanzziehen, das ist ja auch die Aufgabe unserer späten Tage! Dabei zählt nicht allein die aktuelle Situation. Und was mir immer wieder auffällt: Menschen sprechen dann eben von einem GUTEN Leben. „Gut“ – das klingt bescheidener und paradoxerweise zugleich nach mehr als nur „glücklich“, „angenehm“ oder „einfach“.
Ich habe den Eindruck, als wären Sie mit dem Begriff „Lebensqualität“ nicht ganz glücklich?
Der Begriff Lebensqualität muss meines Erachtens ein wenig „tiefer gelegt“ werden, es braucht da einen Perspektivenwechsel!
„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, dieses Wort von Cicely Saunders ist zu einem Grundsatz der Palliativbewegung geworden. (Anm. d. Red.: Als Palliativtherapie bezeichnet man Behandlungen zur Linderung von Symptomen und zur Verbesserung der Lebensqualität, vorwiegend wenn Heilung nicht möglich scheint.) Diese Lebensqualität, „den Tagen mehr Leben zu geben“ gelingt offenbar nicht durch Verlängerung, sondern durch Vertiefung – und das oft sogar unter schwierigen Bedingungen!
Ich denke, eine solche Vertiefung ist nicht leicht zu erringen. Sie hat vor allem nichts mit Aktivismus zu tun! Und nichts mit einem vermeintlichen Wissen, wie gutes Sterben aussehen muss.
Letztlich sollen wir vor diesem großen Geschehen ehrfürchtig stehen – vor einem Geheimnis!
Vom Geheimnis des Sterbens zurück zum Geheimnis guten Lebens: Wie kann ein gutes Leben aussehen? Auch dann, wenn etwas nicht nach Plan läuft, wenn wir körperlichen oder anderen Einschränkungen unterliegen? Können wir in dieser Hinsicht von Sterbenden lernen zu leben?
Ich habe bei meiner Tätigkeit vieles gelernt – oder mindestens erstrebenswerte Haltungen gesehen. Ich hoffe, auf meinem Lebensweg in diese Haltungen hineinzuwachsen: in Großzügigkeit und Weitherzigkeit zum Beispiel, das Leben im Augenblick und diesen Augenblick zu nützen, oder auch den Umgang mit Unangenehmem und mit Schmerzen.
Wer in einem langen Leben viel gesehen, erfahren und durchlebt hat – und wer bereit war, dabei auch zu lernen, sich verändern zu lassen, zu wachsen und zu reifen – der hat einen weiteren Blick, einen größeren Horizont gewonnen. Daraus erwachsen Geduld und Verständnis gerade mit den Schwächen und mit Grenzen – mit eigenen Grenzen wie mit den Grenzen anderer. In der Nähe solcher Menschen fühlt man sich wohl und angenommen!
Oder das Leben im Augenblick: Was haben wir denn mehr oder anderes als den gegenwärtigen Augenblick?! Die Vergangenheit ist nicht zu ändern, die Zukunft liegt nicht in unserer Hand, in einem Augenblick kann alles anders sein… „Genießen Sie Ihr Leben!“, das von einem alten oder einem sterbenskranken Menschen zu hören, ist tief bewegend!
Die Redewendung „Nütze den Tag!“ wäre also im Sinn von „Genieße den Tag!“ zu verstehen?
Durchaus; aber dieses „Carpe Diem“ soll in uns auch keine atemlose Lebensgier auslösen, sondern Dankbarkeit für das Leben, wie es uns gegeben ist. Ich würde sogar sagen: Dankbarkeit für das Leben, wie es uns geschenkt ist. Genuss am Einfachen, an dem, was alltäglich vor uns ist oder was überraschend auf uns zukommt. Das sind lauter Lebensmöglichkeiten, soviel Reichtum!
Ich will Alter, Schmerz und Leiden dabei keineswegs relativieren oder romantisieren, das wäre zynisch. Aber ich habe das Zeugnis von Menschen erlebt, das mir Zuversicht schenkt. Frau Schmitz[1] zum Beispiel hatte nach einer Knie-Operation starke Schmerzen, aber sie hatte auch eine Weisheit bereit: „Es schmerzt immer nur ein Teil.“ Frau Schmitz hatte den Blick fürs Ganze und ging in ihrem Schmerz nicht unter, sie blieb Herrin der Lage. Und sie hatte noch so ein rätselhaftes Wort bereit, als sie über Heilkräuter sprach: „Ich versteh‘ nicht, wieso immer gerade das wächst, was ich brauche…“
Es gibt ja immer so vieles gleichzeitig in unserem Leben: die Grenzen und die Möglichkeiten, Wohlbefinden und Schmerz, Trauer und Freude – und zwischen diesen Polen so viele Schattierungen. Ein offener Blick und die Weite der Wahrnehmung hilft dem Leben! Ich kann Einfluss nehmen, wenn ich meinen Blick bewusst lenke. Wenn ich dem „Positiven“ mehr Aufmerksamkeit schenke. Aber ich kann auch das „Negative“ ansehen: Es gibt immer die Möglichkeit der Wandlung. Wer könnte schon abschließend beurteilen, solange wir noch im Leben unterwegs sind?
Was ist mit jenen Dingen, die sich nicht wandeln und nur Schmerz oder Bedauern zurücklassen?
Auch das habe ich verstehen gelernt: Trauer ist ebenso lebenswichtig. In jedem Leben gibt es Abschiede: große und kleine, bewusste und unbewusste Abschiede. Abschiede von Menschen, Beziehungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten. In der Sterbebegleitung sind diese Abschiede in vielen Gesprächen Thema. Dann fließen auch Tränen der Trauer. Das ist unangenehm für beide Gesprächspartner, ja – jedenfalls auf den ersten Blick. Das ist aber auch lösend, erlösend!
Trauer ist nicht nur ein schmerzlicher Prozess, der möglichst schnell überwunden werden soll, sondern auch eine wichtige Fähigkeit: Sie lässt die Kostbarkeit dieser Menschen und Beziehungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten ermessen. Der Schmerz der Abschiedstrauer ist die Rückseite der Liebe – und diese Liebe bleibt, auch wenn so viel verloren geht. Das erfahren Menschen in der Rückschau auf ein langes Leben.
Auch ungelebte oder überhaupt fehlende Möglichkeiten sind Grund großer Trauer. Ich denke an den österreichischen Literaten Erich Fried, der in einem Gedicht formulierte: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“ Das Leben – so, wie es nun einmal ist – zu bejahen, daraus wächst Kraft: Kraft, das Änderbare zu ändern, und zu akzeptieren, was nicht zu verändern ist.
Es ist wichtig, Menschen bei einem solchen Trauerprozess zu begleiten. Im Gespräch können bedrängende Gefühle „nach außen“ gebracht werden. Diese Distanzierung bringt Entlastung. Die „Wunde“ bleibt nicht im Geheimen abgeschlossen. Wie die Redewendung sagt: „Zu einer Wunde muss Luft dazu“, damit sie heilt.
Für ein Gespräch braucht es aber auch ein gewisses Hörvermögen. Ist das bei älteren Menschen manchmal ein Problem?
In der Begegnung mit alten Menschen während meiner beruflichen Tätigkeit waren Einschränkungen oder Verlust der Sinnesfunktionen tatsächlich sehr häufig und bestimmend. Für die Betroffenen ist das schwerwiegend und belastend: Es geht ja nicht nur ums „Funktionieren“. Die Sinne öffnen uns ganze Welten: Kommunikation, Beziehungen und Leben in Gemeinschaft, Erfahrung von Sinn, Schönheit und Genuss. Der sehnsüchtige, unstillbare „Hunger“ unserer Sinne führt uns ja sogar zur Frage nach dem Transzendenten.
Wenn Menschen hören, können wir sie erreichen; Informationen können ankommen – das gibt Sicherheit, lässt sie Entscheidungen treffen und adäquat handeln. Nicht-hören schließt ab, macht einsam und unsicher.
Bei sterbenden Menschen machen oft schon die Schwäche und die Eintrübung des Bewusstseins verbale Kommunikation schwierig. Als Begleitende ist dann sehr konzentriertes, gespanntes Zuhören notwendig, Horchen. Es gibt im Deutschen die Wendung: „ganz Ohr sein.“ Für eine gute Begleitung Sterbender sollten wir lernen, auch andere „Kanäle“ zu nützen: Blickkontakt, Berührung, oft einfach nah und da zu sein. Ich denke, diese Kanäle können wir auch ganz allgemein nützen! Wir Menschen sprechen aufeinander an, wir treten in Kontakt – und sei es nicht in Worten, dann in Blicken, Berührungen; zum Schluss noch im miteinander Atmen.
[1] Name aus Gründen des Datenschutzes geändert
Buchtipp
„5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden“
Bronnie Ware, übersetzt von Wibke Kuhn, Hardcover: Arkana 2013, ISBN 978-3442341290; Paper-Pack: Goldmann Verlag 2015, ISBN 978-3442157525; e-Buch: Arkana 2013, ASIN B00B6PD7RG; Audio-Buch: ABOD Verlag 2013, ASIN B00CFPWXKI
Kann man Lebensqualität messen?
Dr. Ruth Zöhrer hat Medizin studiert und ein Doktorat in Biologie abgeschlossen. Jetzt ist sie mit Studien beschäftigt, die unter anderem messen, wie Hörimplantate die Lebensqualität der jeweiligen Nutzer beeinflussen.
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