Geschwister von Cochlea-Implantat-Kindern: gezielt Resilienz aufbauen

Ein Kind mit Höreinschränkungen – oder anderen Einschränkungen oder chronischen Krankheiten – belastet mitunter dessen Geschwisterkinder so sehr, dass sogar deren Gesundheit in Gefahr ist. Gezielte Unterstützung und Begleitung stärken und wirken dem entgegen.

Eva Kohl

Das CI-Zentrum Friedberg CIC bietet seit über 30 Jahren CI-Rehabilitation für Kinder: Die Kinder werden mehrmals im Jahr für drei bis fünf Tage gemeinsam mit einem Elternteil aufgenommen. Sonst unbetreute Geschwister können mitkommen.

„Wenn Geschwisterkinder dabei sind, fühlen die sich oft ausgeschlossen“, erzählt Logopädin und CI-Therapeutin Nina Freiburg, stellvertretende therapeutische Leiterin der Kindertherapie Friedberg. „Mein anderes Kind ist gerade echt belastet. Es fragt, was im Krankenhaus passiert. Es fragt, ob das, was da am Ohr ist, weh tut“, erzählen Eltern oder sorgen sich: „Die Schwester, der Bruder kommt immer zu kurz.“

Das Team reagierte: „Das war für uns der Anlass uns anzusehen, ob wir auch gezielt mit den Geschwisterkindern arbeiten können.“

Geschwistertage am CIC Friedberg

Wie alle Kinder mit Einschränkungen oder mit chronischen Erkrankungen benötigen auch Kinder ohne Hörvermögen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung von ihren Eltern. Haben diese Kinder auch Geschwister, müssen diese oft zurückstecken. Sie sollen Rücksicht nehmen und oft wird ihnen recht früh Mitverantwortung für nicht-hörende Geschwister überantwortet. Zusätzlich sind sie von gesellschaftlichen oder sozialen Einschränkungen der Familie mitbetroffen. Manchmal leiden sie auch unter Scham oder Schuldgefühlen angesichts des nicht-hörenden Bruders oder der betroffenen Schwester. Häufig würden daher auch die Geschwister konkrete Unterstützung benötigen, um die herausfordernde Familiensituation gut zu bewältigen.

Das Team am CIC Friedberg hat dieses Problem aufgegriffen: Es lädt zu regelmäßigen Geschwistertagen ein. Dabei bieten die Fachleute den Geschwisterkindern nicht nur die geforderten Informationen in altersgemäßer Sprache; sie versuchen aber auch, die Resilienz der Geschwisterkinder bestmöglich zu stärken. Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit einer Person, sich trotz belastender Lebensumstände psychisch gesund zu entwickeln. Dann kann die besondere Familiensituation von der Herausforderung sogar zur besonderen Chance werden.

Geschwister sind etwas Besonderes, besonders die von CI-Kindern!

Nina Freiburg erfahrene CI-Therapeutin am CIC – Cochlear Implant Centrum Rhein-Main ©Nicole Effinger

Geschwister sind mehr als bloße SpielkameradInnen oder gegenseitige Unterstützung bei der Sozialentwicklung. Der Psychologe und Pädagoge Prof. Dr. Hartmut Kasten von der Ludwig-Maximilians-Universität München sieht in der Geschwisterbeziehung eine „Primärbeziehung“, wie es die Beziehung zur Mutter ist – ja sogar die am längsten andauernde Beziehung im Leben. Primärbeziehung meint eine besonders intensive, frühkindliche personelle Beziehung, die auch prägend für die Persönlichkeits- und Beziehungsbildung späterer Jahre ist.

Wie die Beziehung zu einem Geschwisterkind aussieht, hängt wesentlich auch von der Geburtsreihenfolge ab – also wer der/die Jüngere, wer der/die Ältere ist, vom Altersabstand und Geschlecht, und natürlich auch von eventuellen, wesentlichen Erkrankungen oder Behinderungen eines oder beider Geschwister.

So eine wesentliche Beeinträchtigung eines Geschwisterkinds stellt an das oder die andereN GeschwisterkindEr besondere Anforderungen. Es schenkt ihnen aber durch die spezielle Familiensituation und deren Herausforderungen und Bewältigungsstrategien ganz besondere Entwicklungsmöglichkeiten: Familienzusammenhalt, das Übernehmen von Verantwortung, die Erfahrung sozialer Unterstützung aus dem Umfeld und die Anerkennung im Umfeld. Sozialkompetenz, Selbständigkeit, Offenheit und Toleranz werden besonders unterstützt, nicht selten wird die Beeinträchtigung des einen Geschwisterkinds zum Impuls für die Berufswahl des anderen. Doch diese Chancen und Ressourcen gilt es zu entdecken und zu nutzen.

Die Belastung der Geschwister nicht unterschätzen!

Andererseits kann die Erkrankung oder Behinderung eines Kindes auch zu einer wesentlichen Belastung der anderen Kinder in der Familie werden. Eine wissenschaftliche Metaanalyse der psychischen Gesundheit von Geschwistern behinderter oder chronisch kranker Kinder zeigt: Geschwisterkinder haben ein hohes Risiko zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen – von übermäßiger Wut und Aggression, über ein schlechteres Bild von sich selbst bis zu übermäßiger Angst und sogar Depression.  Bei zehn Prozent der Geschwisterkinder besteht über kurz oder lang sogar Therapiebedarf.

Diese Daten beziehen sich zwar auf Geschwister von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen oder Erkrankungen. Für Geschwister von Kindern, die „nur“ hörbeeinträchtigt sind, ist das Risiko geringer – das hängt nämlich direkt vom Therapieaufwand des behinderten Kinds ab. Doch ein erheblicher Teil hörbeeinträchtigter Kinder lebt mit weiteren Einschränkungen. Und auch andere familiäre Herausforderungen können die Kinder der Familie zusätzlich belasten.

Kinder stark machen!

Prim. Dr. Robert Weinzettel, Leiter des kokon Reha-Zentrum Rohrbach-Berg: „Es gibt immer für alles eine Lösung!“ ©kokon

Die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, kurz: BZgA, benennt unterschiedliche Faktoren, die eine gesunde kindliche Entwicklung gefährden können: kindbezogene Faktoren wie eine genetische Veranlagung zu Gesundheitsstörungen, geringe kognitive Fähigkeiten oder auch eine unsichere Bindung zu den Eltern; oder verschiedene Faktoren der familiären Lebenssituation: zum Beispiel die sozioökonomische Situation, Alleinerzieher, psychische Situation der Eltern oder eben ein Geschwisterkind mit besonderen Bedürfnissen. Treffen vier oder mehr dieser Risikofaktoren zu, so liegt die Wahrscheinlichkeit für eine spätere psychische Erkrankung bei fast 48 Prozent!

Diese Mehrzahl dieser Risikofaktoren kann nicht einfach beseitigt werden. Im Gegenzug können aber schützende Faktoren im Leben der Kinder gestärkt werden. Das macht die Kinder resilienter, widerstandsfähiger – sie können sich an die unverändert herausfordernde Situation besser anpassen. Die BZgA zitiert aus der Publikation Freiburger WissenschaftlerInnen drei Gruppen von Schutzfaktoren:

  • Persönliche Faktoren wie Optimismus, Selbstwert, aktive Bewältigungsstrategie
  • Familiäre Faktoren, darunter eine positive Eltern-Kind-Bindung, Struktur und eindeutige Regeln im familiären Alltag oder auch eine positive Geschwisterbindung
  • Soziale Faktoren: Unterstützung durch das Umfeld, soziale Kontakte – und spezielle Geschwisterangebote

Prävention für Geschwisterkinder: gezielt Ressourcen stärken!

Präventionsstrategien bei Geschwisterkindern sollten frühzeitig einsetzen und die Kinder langfristig, systematisch und entwicklungsorientiert fördern. Die Geschwistertage in Friedberg möchten genau das mit ihrem Geschwisterangebot für die Geschwister kleiner CI-NutzerInnen. Die Herausforderungen mit beeinträchtigtem Geschwisterkind können für derart gestärkte Kinder dann sogar zur Chance werden, besondere Qualitäten der Persönlichkeit und besondere Fähigkeit zur Lebensfreude zu entwickeln.

Seit Februar 2003 bietet das CIC Friedberg drei bis vier Mal jährlich an einem Samstag einen speziellen Geschwistertag für Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren an. „Das ist die Altersgruppe, bei der so eine Intervention am effektivsten ist.“ Prinzipiell offen auch für Geschwister von Kindern mit anderen Beeinträchtigungen, nützen bisher aber fast ausschließlich die Geschwister der kleinen CI-PatientInnen des CIC dieses Angebot, einige davon Geschwister von Kindern mit mehrfachen Beeinträchtigungen. Der Geschwistertag hat drei Schwerpunkte:

  • Kindgerecht vermitteltes, konkretes und praxisnahes Wissen über Hören, Höreinschränkung und Hörhilfe.
  • Erlebnisorientierte Gruppenarbeiten, um die Ressourcen der Kinder zu stärken.
  • Möglichkeit zum Austausch, damit sich die Kinder ihrer eigenen Gefühle bewusst werden können, sie zu formulieren lernen und sehen, dass andere Kinder Ähnliches erleben und fühlen.

„Wir haben sehr viele Wiederholungstäter“, schmunzelt Nina Freiburg. „Und es gibt einige Freundschaften, die hier entstanden sind – Mädels, die ihre Handynummern austauschen – was ja auch unser Ziel ist.“ Die 20 Euro Teilnahmegebühr pro Kind und Tag decken die Kosten für dieses Angebot nicht. Zahlreiche Sponsoren unterstützen. „Und zum Beispiel die Personalressourcen stellen wir als Institution selbst zur Verfügung, weil uns das Projekt einfach wichtig ist: Zu einem ganzheitlichen Konzept gehören auch die Geschwisterkinder dazu!“

Reha für Geschwisterkinder in Österreich

Das Rehabilitationszentrum kokon ist ein geschützter Ort, an dem betroffene Kinder bestmögliche Unterstützung erwarten dürfen. ©kokon

Die vierwöchige stationäre Hörreha für Kinder bei kokon in Rohrbach-Berg in Oberösterreich ist immer in ein gemeinsames Konzept mit lokal verorteter Hörförderung eingebettet. Auch hier können sonst unbetreute Geschwisterkinder mitkommen. Anfragen für Therapie dieser gab es bisher zwar noch nicht; prinzipiell wäre das aber bei kokon in Erlach in Niederösterreich möglich, wie der ärztliche Direktor des kokon Rohrbach-Berg, Primar Dr. Robert Weinzettel, erklärt. „Zum Beispiel bei Geschwisterkindern von Trisomie 21-Kindern ist das auch üblich.“

Anders als am CIC Friedberg ist die Maßnahme bei kokon als fünfwöchige sozialpädagogische Rehabilitation angelegt, die – wie jede Rehabilitation – individuell zusammengestellt wird: etwa 70 Prozent Gruppentherapien, der Rest als Einzeltherapie. „30 Prozent der Maßnahmen sind in der psychiatrischen Rehabilitation angesiedelt“, erklärt der Primar. Rein präventive, also: vorbeugende, Rehabilitation gibt es in Österreich derzeit nicht, wobei eine passende Diagnose aber weit gefasst werden kann.

Um dieses Angebot nützen zu können, braucht es daher einen Reha-Antrag nicht nur für das CI-Kind, sondern auch für das Geschwisterkind: „Wegen Belastung durch das behinderte Geschwisterkind“, erklärt Primar Weinzettel. kokon würde in der Regel auch versuchen, beiden Kindern zeitgleiche Reha-Termine anzubieten. Der Aufenthalt für das Geschwisterkind wäre dabei eine Woche länger als eine CI-Reha. „Aber es gibt immer für alles eine Lösung“, wie Primar Weinzettel versichert.

Wie können Eltern dem Geschwisterkind helfen?

Die Rehaeinrichtung für Kinder kokon kann auch für Geschwisterkinder zeitgleiche Reha-Termine anbieten. ©kokon

CIA-Angebote wie die Summer Days bieten auch den mitreisenden Geschwisterkindern Möglichkeit zum Austausch, spezielle Workshops zur Resilienz-Steigerung sind bisher aber nicht am Programm. Viele Frühfördereinrichtungen haben Geschwisterangebote im Programm, ein spezielles Angebot für Geschwister hörbeeinträchtigter Kinder konnten wir aber nicht finden.

Die Eltern können Geschwisterkinder auch im Alltag bewusst unterstützen: mit kindgerechter Information, einfühlsamen Gesprächen und mit Freizeitplanung, bei der einmal ganz bewusst nur das Geschwisterkind im Mittelpunkt steht. „Und wenn das CI-Kind den Prozessor im Sand verbuddelt hat und die ganze Familie sucht, aber das Geschwisterkind sagt: ‚Ich hab´ jetzt keinen Bock mehr zu suchen!‘, dann müssen die Eltern halt allein weitersuchen“, warnt Nina Freiburg, die Grenzen der Geschwisterkinder wahrzunehmen und zu respektieren.

Elterliche Fürsorge sind ebenso vorbeugende Maßnahmen wie die Geschwistertage in Friedberg.  Wenn aber Kinder:

  • sich extrem zurückziehen, ihre Freunde nicht mehr sehen wollen
  • mit ihrem Geschwisterkind gar nichts mehr zu tun haben wollen oder den CI-Prozessor nicht mehr anfassen wollen
  • übermäßig aggressiv werden oder die schulischen Leistungen abrupt abrutschen
  • Äußerungen machen wie: „ich kann nicht mehr schlafen“, „mich mag keiner mehr“…

„Dann macht es wie bei allen psychischen Erkrankungen Sinn, das in einem psychotherapeutischen Setting abzuklären“, empfiehlt die Therapeutin. Geeignete Anlaufstellen wären Kinder- oder JugendpsychologIn, -PsychiaterIn oder -PsychotherapeutIn.

Danke an Nina Freiburg, stellvertretende therapeutische Leiterin der Kindertherapie Friedberg, für die wissenschaftlichen Informationen für diesen Beitrag!

Material und Hilfsangebote, um als Eltern Geschwisterkinder zu unterstützen

Stiftung-familienbande.de bietet neben dem Handbuch „Jetzt bin ich ´mal dran!“ für Fachkräfte auch den Elternratgeber „Ich bin auch noch da!“ zum kostenlosen Download. Er ist zwar nicht als Therapieergänzung oder gar -ersatz zu sehen, bietet den Familien aber viele Informationen, Anregungen und Vorschläge zum Thema Geschwisterkinder.

Anlass für ein kindgerechtes Infogespräch über Hören, Hörprobleme und Hörimplantate können – je nach Alter der Kinder – die beiden Mellie-Bilderbücher oder die beiden Le Dem Comic-Hefte bieten; alle verfügbar im ZENTRUM HÖREN.

Mit dem Kinderbuch Emma können Kinder erfahren, dass Gefühle wie Frust, Wut, Trauer und Eifersucht ihre Berechtigung haben, dass sie damit nicht allein sind und wie hilfreich der Austausch mit anderen Betroffenen ist. Das Buch ist im CIC Friedberg erhältlich, wo es auch erstellt wurde.

Die Stiftung Kindertraum unterstützt unter dem Stichwort „Ich bin auch noch da“ Geschwisterkinder, wenn die familiären Finanzen dazu nicht reichen: Unter anderem vermittelt die Stiftung eine gespendete Auszeit des Geschwisterkindes mit einem Elternteil in einem Falkensteiner Hotel oder bei einer Veranstaltung bei Oeticket.

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