Eindringlich beschreibt der Komponist Ludwig van Beethoven in seinem Testament die charakteristische soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit. Mit den Mitteln der modernen Medizin hätte man ihm wahrscheinlich helfen können.
Beethoven war bereits als 28-Jähriger schwerhörig, zuletzt war er taub – ein Dornenweg für den hoch begabten Musiker. Hört man die 1798 zu Beginn seiner Schwerhörigkeit komponierte, schwer klingende Klaviersonate D-Dur (op. 10) „largo e mesto“, so glaubt man, etwas von der Ahnung dieses schweren Weges in der Musik wiederzufinden. 1801, im Alter von 31 Jahren, schildert Beethoven in einem Brief an seinen Freund Dr. Franz Gerhard Wegeler (1765 bis 1848) seine Symptome: „…mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden (Schwerhörigkeit). . . . nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort (Tinnitus). . . . Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weils mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgend ein anderes Fach so gings noch eher, aber in meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand. . . . Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht (Hochtonverlust), wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht (Sprachverständlichkeitsverlust), und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich (Hyperakusis).“
Es war Kant, der anmerkte, schlechtes Sehen trenne von den Dingen, Schwerhörigkeit hingegen trenne von den Menschen. Beethoven beschreibt die charakteristische, soziale Isolation des Schwerhörigen, die Schwerhörigkeit als Krankheit, die im wahrsten Sinne des Wortes doppelt unsichtbar ist: Man kann sie nicht sehen und der Betroffene macht sich unsichtbar. Beethoven zieht sich aus der Welt der Hörenden zurück. Ein bestimmender Teil seines Menschseins geht Beethoven unaufhaltsam verloren. Der kranke Beethoven hatte Suizidgedanken. Nur seine Kunst rettete ihn.
Das Ohr ist das empfindlichste und schnellste Sinnesorgan des Menschen. Der kleinste wahrnehmbare Schalldruck im Innenohr führt zu Auslenkungen, die nicht größer sind als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Zeitlich können mehr als 1000 hintereinander auftretende Ereignisse pro Sekunde aufgelöst werden.
Im Innenohr des Menschen befinden sich eine Reihe innerer und drei Reihen äußerer Haarzellen. Letztere haben die Aufgabe, leise Signale zu verstärken, sodass sie in den hörbaren Bereich fallen (Cochlearer Verstärker).
Das gesunde Ohr hat auch eine erstaunlich gute Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden. Ohne diese Fähigkeit wäre Beethovens Musik nur Schallbrei. Ohne diese Fähigkeit kann der Kranke auch Sprache kaum noch verstehen. Auch für diese Funktion spielen wiederum die äußeren Haarzellen eine wesentliche Rolle.
Störungen oder Funktionsverluste der äußeren Haarzellen sind eine häufige Ursache der Innenohrschwerhörigkeit. Leise Geräusche werden nicht mehr aktiv verstärkt, die inneren Haarzellen hören ohne äußere Haarzellen erst ab 50 bis 70 dB SPL. Darüber hinaus geht die Frequenzselektivität verloren. Dies kann einen Verlust der Sprachdiskrimination im Sprachaudiogramm erklären. Weiterhin tritt ein Recruitment (Verlust der Dynamik zwischen leisestem und lautestem Signal) auf. Außerdem ist zu erwarten, dass binaurale Hörleistungen wie laterales räumliches Hören und Signalerkennung vor Hintergrundgeräuschen deutlich eingeschränkt sind.
Aufgrund Beethovens Beschreibungen kann man annehmen, dass seine Schwerhörigkeit damit begann, dass er sukzessive äußere Hörsinneszellen verlor. Seine Symptome lassen vermuten, dass auch bei ihm – wie bei vielen Innenohrschwerhörigen – die scharfe Frequenzabbildung in der Cochlea nicht mehr vorhanden war. Als Folge litt er insbesondere an der von ihm geschilderten Einschränkung der Sprachverständlichkeit. „Hör ich … wohl …, aber verstehe die Worte nicht.“
Die Behandlung von Beethovens Ohrenleiden begann 1800. Mandelöl-Ohrentropfen und Meerrettich-Baumwolle wurden angewandt, danach bestimmte Teesorten, aber auch so genannte Vesikatorien, die zu Blasen auf der Haut führten; man hoffte, dass mit Verschwinden der Blasen auch die Krankheit vergehe. Was heute fremd anmutet, war typisch für die damalige Zeit. Schließlich wurden ihm lauwarme Donaubäder verschrieben, die ihm bei seinem Ohrgeräusch etwas geholfen haben sollen.
Allerdings war von Heilung keine Rede, und so war Beethovens Ärzte-Hopping kein Wunder. Aber die besten Ärzte seiner Zeit konnten ihm alle nicht helfen. Und doch hat Beethoven in den Jahren bis 1812 acht seiner neun Sinfonien abgeschlossen. Es war Johann Melzel, der Erfinder des Metronoms, der Beethoven 1814 eine kleine Hilfe zukommen ließ: ein Hörrohr. Eine weitere Unterstützung war ein an seinem Erard-Flügel befestigter Holzstab, den Beethoven zwischen seine Zähne nahm. Auf diese Weise hatte er ein Vibrationsempfinden.
Doch selbst diese kleinen Fortschritte wurden zunichte gemacht: Ab 1814 verschlimmerte sich Beethovens Schwerhörigkeit zunehmend. Die Indizien: 1814 war sein letzter öffentlicher Auftritt als Pianist. Danach spielte er nur noch im Freundeskreis oder für sich allein. 1816, so Simrock, sei Persönliches nur noch schriftlich vermittelbar gewesen. Seit 1818 wurden Gespräche mit Beethoven ausschließlich schriftlich geführt. Überliefert sind rund 400 so genannte Konversationshefte. Vergleicht man Beethovens Porträts aus den Jahren 1812, 1815 und 1818, so gewinnt man den Eindruck, sein Antlitz sei in diesen sechs Jahren fast 20 Jahre älter geworden. Es spiegelt offensichtlich die furchtbare Erfahrung Beethovens wider.
Am 7. Mai 1824 war Beethoven formal Dirigent eines Konzertabends, tatsächlich folgte das Orchester Michael Umlauf, dem „assistierenden“ Dirigenten. Frenetischen Beifall gab es bereits nach dem zweiten Musikstück. Beethoven wandte sich jedoch nicht zum applaudierenden Publikum. Man nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn sanft um, damit er den Beifall in Empfang nehmen könne. Offensichtlich war Beethoven taub. Nach allem, was wir heute wissen, kann man vermuten, dass 1824 nicht nur Beethovens äußere Hörsinneszellen, sondern auch seine inneren Hörsinneszellen ihre Funktion aufgegeben hatten.
Auch ohne Schwerhörigkeit und Taubheit war Beethoven ein kranker Mann. Im Krankenzimmer herrschte während Beethovens letzten Lebenswochen reger Betrieb. Der Kranke erlebte soziale Zuwendung, von der er sich mehr als 15 Jahre ausgeschlossen hatte. Nicht nur kamen täglich mindestens zwei Ärzte zur Visite, sondern auch Freunde und Bekannte stellten sich regelmäßig ein. Am 24. März 1827 tobte nachmittags ein Gewitter über Wien – und Beethoven starb.
Die Obduktion nahm Dr. Johann Wagner, Assistent am Pathologischen Museum, vor. Sein Gehilfe war Dr. Karl von Rokitansky.
Am ehesten wird man heute meinen, dass Beethoven an einer so genannten chronischen Innenohrschwerhörigkeit gelitten hat. In diesem Fall wäre es zunächst zum Funktionsverlust und Untergang der äußeren Haarzellen – und mit der Ertaubung auch der inneren Haarzellen – gekommen. Nach Untergang der inneren Haarzellen kann auch der Hörnerv zum Teil zugrunde gehen. Im Protokoll der Obduktion steht, dass der Hörnerv deutlich zu dünn gewesen sei, zusammengeschrumpft und marklos. Wagner und Rokitansky bemühten sich, bei dem hochberühmten Mann, der an einer Taubheit gelitten hatte, das Gehör mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschreiben. Die Haarzellen waren noch nicht entdeckt, ein Mikroskop gab es nicht. Nur das bloße Auge stand zur Verfügung.
Die moderne Medizin hätte Beethoven zwar nicht heilen – sie hätte ihm jedoch helfen können. Vermutlich hätte er seine Musik noch viele Jahre lang mit modernen Hörgeräten hören können. Später hätte man ihm möglicherweise ein modernes Hörimplantat (aus Österreich) operativ ins Mittelohr einpflanzen können. Durch Mikrovibrationen reizt es die inneren Hörsinneszellen, wenn die äußeren zerstört sind. Nach dem Untergang der inneren Haarzellen hätte man Beethoven ein Cochlea Implantat (aus Österreich) in die Hörschnecke einsetzen können. Ein Cochlea Implantat wirkt, wenn das gesamte Innenohr einschließlich der inneren Hörsinneszellen nicht mehr funktioniert, aber der Hörnerv noch intakt ist.
Selbst wenn schließlich die Hörnerven ebenfalls betroffen sind, gibt es heute Hilfe, nämlich in Form eines Hirnstammimplantats – auch das gibt es „made in Austria“. Das Implantat reizt das Gehirn direkt. Der Hörnerv wird nicht gebraucht.
Beethovens Musik klingt mit einem Cochlea oder Hirnstamm Implantat vielleicht nicht unbedingt elegant, aber er hätte sie vermutlich hören können.
Quellen: Dtsch Ärztebl 2002; 99(42): A-2762 / B-2353 / C-2208;
Festvortrag von Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Peter Zenner anlässlich des 56. Österr. HNO Kongresses 2013 in St. Pölten