DI Ewald Thurner, Direktor, MED-EL Wien
Seit Beginn meiner Tätigkeit bei MED-EL beschäftigt mich die Frage: „Wie natürlich hören Nutzer unserer Hörimplantat-Systeme?“ Ausgezeichnetes Sprachverständnis war möglich, dafür gab es eine Vielzahl an wissenschaftlichen Belegen. Die Frage „WIE hört man?“ blieb jedoch Großteils unbeantwortet.
Vor einer Hörimplantatversorgung werden diverse audiometrische Messungen durchgeführt. Eine subjektive Messmethode ist die Elektroaudiometrie (EAM). Dafür wird der äußere Gehörgang mit physiologisch angereichertem Salzwasser aufgefüllt, die Testelektrode in den Gehörgang gelegt und die Ohren verschlossen. Anschließend werden sehr fein abgestimmte Stromimpulse (engl. burst) appliziert, die Höreindrücke auslösen kann. Damit kann man unter anderem das Fehlen des Hörnervs diagnostizieren. Diese Messung wurde früher routinemäßig durchgeführt – heute verzichtet man darauf, da das Fehlen des Nervs selten vorkommt. Für mich als junger Medizintechniker war damals klar, wenn ich diese salzige Elektrode einem Zweijährigen ins Ohr stecke, dann will ich wissen, wie sich das anfühlt und anhört. Also hatte ich an meinem dritten oder vierten Arbeitstag die Elektrode in mein Ohr geschoben und die Messung im Selbstversuch getestet: Ich hörte einen schönen Sinuston in verschiedenen Frequenzen. Von diesem Moment an war ich von der EAM-Messung überzeugt.
Für meine Firma hat sich 1994 mit der Einführung des MED-EL-C40 Implantat-Systems alles dramatisch geändert. Man konnte plötzlich sehr schnelle Kodierungsstrategien über viele Kanäle verteilt anwenden und somit sehr viele Töne von der Basis bis zur Spitze der Cochlea nebeneinander zeitlich abbilden. Hohe Töne konnte man an der Basis der Cochlea immer schon stimulieren. Das heißt, doch MED-EL war und ist (!) die erste Firma weltweit, die es beginnend mit dem C40 schafft, auch die Spitze der Schnecke zu stimulieren und somit tiefe Tonempfindungen bis zu etwa 100 Hertz zu generieren. (MED-EL hat die Elektroden dermaßen optimiert, dass alle physiologisch angelegten Frequenzbereiche in der Cochlea erreicht werden können – und das restgehörerhaltend.)
Bevor das obengenannte C40 Implantat eingeführt wurde, hörten Patienten nur hochfrequente Töne. Das entsprach einer verzerrten Wahrnehmung. Höreindrücke glichen einer Mickey Maus-Stimme. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Deswegen war meine Frage an alle C40-Nutzer immer wieder: „Wie hörst Du?“ Der heutige CIA-Obmann Karl-Heinz Fuchs ist postlingual ertaubt. Er kann aus diesem Grund das Hören vor seiner Ertaubung mit dem Hören nach der Implantation ausgezeichnet vergleichen und beurteilen. Er war der ersten Patient, der beinahe entnervt klarstellte: „Ewald, mach´ dir keine Sorgen, ich höre normal. Also tiefe und hohe Stimmen, Musik und natürliche Geräusche. – und jetzt hör´ bitte auf, uns mit dieser Frage nach dem „WIE“ zu löchern!“
Läuft eine Operation gut und kann eine moderne MED-EL- Elektrode den gesamten Bereich der Cochlea erreichen – also vom Eingang bis zur Spitze – dann brauchen wir uns um die Natürlichkeit des Hörens keine Sorgen machen. Normales Hören ist für den Patienten gewährleistet.
Bereits ab 1996 wurden die ersten Ertaubten beidseitig implantiert. Damals mutete ich nicht nur mir Eigenversuche zu, ich bin auch unseren Nutzern sehr dankbar, dass sie immer wieder zu den verschiedensten Tests und Studien bereit waren. Wiederum war es Karl-Heinz Fuchs, der mir auf einer sehr langen Autofahrt vorschwärmte, wie gut er mit der beidseitigen Implantation wieder Musik genießen konnte. Ich wollte ihm das einfach nicht glauben, also überredete ich ihn, die Probe aufs Exempel zu machen. Ich pfiff ihm einige Lieder vor und tatsächlich, Karl-Heinz pfiff die Melodien einwandfrei nach und überzeugte mich endgültig.
Mit der einseitigen Implantation kann ich die Hörsituation also von einer absoluten Gehörlosigkeit zu einem Sprachverstehen, je nach Patient, auf bis zu hundert Prozent verbessern. Es erfordert viel mehr Aufmerksamkeit für CI-Nutzer einem Gespräch zu folgen, als das bei einem Menschen ohne Hörbeeinträchtigung der Fall ist. Dieses höher konzentrierte, angestrengtere Hören wird entsprechend den Aussagen unserer Kunden durch die bilaterale Versorgung dramatisch erleichtert. Bilaterale Versorgung verringert den Hörstress; das anstrengende Hochhalten der Aufmerksamkeit entfällt.
Nicht zuletzt kommt mir wieder meine Eigenerfahrung zugute, die ich mit HiFi-Stereoanlagen gemacht habe: Ich war immer schon ein Musikfan und mein Vater hatte ein altes, riesengroßes Tonbandgerät. Damit konnte man mit zwei Mikrofonen Stereoaufnahmen machen. Als Teenager hatte ich mich viel mit diesem Gerät beschäftigt und so manches ausprobiert. Eine Besonderheit des Gerätes war eine ‚Mono‘-Taste. So konnte man mit einem Schlag das STEREO-Signal auf MONO umschalten. Der dabei entstehende Höreindruck war für mich so prägend, dass mich das Phänomen für immer in den Bann gezogen hat. In der Stereoeinstellung konnte ich die Augen schließen und das Orchester quasi vor mir sehen. – Und dann drückte ich die ‚Mono‘-Taste – plötzlich war die Welt um mich förmlich zusammengeschrumpft und der Eindruck reduzierte sich auf eine Hörlinie exakt mittig durch meinen Kopf. Diese Erkenntnis war extrem prägend.
Stereohören ist für Hörende das Natürlichste auf der Welt. In dem Moment, in dem jemand eine ‚Mono‘-Taste in unserem Leben drücken würde, ginge uns die akustische Dreidimensionalität dramatisch ab. Und ich behaupte, würde es eine ‚Einseitig‘-Taste geben, dann würde uns noch viel mehr fehlen als bei Mono. Bei Mono wird das gesamte Hören auf eine Linie gebracht, aber bei einseitigem Hören fehlt beinahe die Hälfte des Hörens – so, als ob man bei einer Stereoanlage nur einen Lautsprecher anschließt und den zweiten Ausgang unbenutzt lässt.
Natürliches Hören heißt für mich, die Natur mit ihren vielfältigen Geräuschen wahrzunehmen. Die höchste Form das zu können ist räumliches Hören.
Wir bei MED-EL sind der Überzeugung, dass es das ultimative Ziel jedes Hörimplantats sein muss, den Nutzern bestmögliches Hören zu ermöglichen. Deswegen haben wir unsere Entwicklung in drei Kernbereiche konzentriert: Möglichst lange Elektroden sind eine Voraussetzung, um die Cochlea auf ihrer gesamten Länge stimulieren zu können. Wenn das gelingt, so sprechen wir von Complete Cochlear Coverage, kurz: CCC. Besonders weiche, flexible Elektroden gewähren eine atraumatische Insertion in die Cochlea, sodass möglichst keine Strukturen dort beeinträchtigt werden – im Gegenteil gelingt es in Kombination mit geeigneter OP-Technologie sogar in vielen Fällen, ein eventuell vorhandenes Restgehör zu erhalten. Diese Eigenschaft nennt man auf Englisch Structure Preservation, kurz: SP. Einen ebenso wichtigen Anteil am natürlichen Höreindruck hat gewiss die Kodierungsstrategie. Mit der Feinstrukturkodierung (auch Finehearing, kurz: FH) werden auch die feinen Tonhöhenunterschiede des Audiosignals speziell in den tiefen Tönen auf die neuronale Struktur übertragen. Diese drei Aspekte – CCC, SP und FH – werden mit dem Begriff Triformance zusammengefasst. Aber last but not least gehört zum natürlichen Hören auch das Hören mit zwei Ohren. Für unsere implantierten Nutzer heißt das: Addieren wir zu den drei Teilen von Triformance eine weitere Komponente – die bilaterale Hörversorgung.
Damit folgen wir Einstein – und gehen in die vierte Dimension.