Im Rahmen eines Salon-Gesprächs diskutierten Betroffene und Fachleute über die Cochlea-Implantation bei Kleinkindern und über die Auswirkungen der Operation auf den weiteren Lebensweg.
Im Club Alpha, der Frauengruppe der Wiener Rotarier, treffen einander drei Mütter und zwei ihrer Töchter zum Salon-Gespräch. Den Gedankenaustausch der beiden CIA-Familien Adzic und Sturz leitet die frühere Bundesministerin Maria Rauch-Kallat, selbst Mutter einer mittlerweile 41-jährigen blinden Tochter: „Ich gehöre zu jenen Eltern, die für die Integration ihrer Kinder gekämpft haben und aus jener Zeit habe ich auch eine Reihe Kontakte zu Eltern von gehörlosen Kindern.“ Blinde Kinder seien ja die kleinste Gruppe der behinderten Kinder, die größte Gruppe seien taub geborene Kinder – Kinder, wie die mittlerweile 22-jährige Jus-Studentin Mariella Sturz oder die 14-jährige Sophie Adzic.
‚Taubstumme‘ gibt es nicht!“
„Taubstumm waren Menschen, die aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nicht sprechen lernen konnten“, erklärt Rauch-Kallat die Aufgabe der Sonderpädagogik, gehörlose Kinder Lippenlesen und Gebärdensprache zu lehren. Viel schwieriger erweise es sich für gehörlose Kinder, sprechen zu lernen. Rauch-Kallat lebt in Nachbarschaft mit einer betroffenen Familie: „Die Kinder haben zwar sprechen gelernt, aber ihre Sprache ist schwer verständlich.“
Die heutige Medizintechnik eröffnet die Möglichkeit, trotz angeborener Taubheit ganz unkompliziert hören und sprechen zu lernen und die Folgen von Gehörlosigkeit zu mildern. Eine Möglichkeit, die das Ehepaar Sturz für ihre Tochter ergriff, sobald die Gehörlosigkeit der damals 14 Monate alten Mariella fest stand. „Da gab es die medizinische Indikation der beidseitigen Taubheit und es gab ein technisches Mittel, das es ermöglichte, normales Hören und lautsprachliche Kompetenzen zu erwerben“, erinnert sich die Mutter an den Entscheidungsprozess.
Die Kinderrechtscharta der Vereinten Nationen kennt kein explizites Recht auf Hören – doch ob ein Kind hören kann oder nicht, wirkt sich auf derart viele Lebensbereiche aus, dass man von einem indirekten Kinderrecht sprechen könnte. „Durch das Hörimplantat wird eine Welt eröffnet, die sonst verschlossen wäre“, sieht Mag. Dominique Sturz einen positiven Effekt in vielen Bereichen: „soziale Kontakte, Freizeitgestaltung und Ausbildung, Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Sozialsystemen – alles steht völlig unkompliziert offen.“
Keine leichte Entscheidung
Bei Sophie Adzic zeigte das Neugeborenen-Hörscreening schon zwei Tage nach der Geburt Hinweise auf Gehörlosigkeit – als sie zehn Monate alt war, waren sich die Kliniker sicher. „Wir haben ein gesundes Baby und das lassen wir jetzt aufschneiden“, erinnert sich Mutter Mag. Susanne Adzic-Frey an ihre damaligen Zweifel und ergänzt: „Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht – weder bei der ersten Implantation, noch dann bei der zweiten Seite.“
Mariella Sturz war etwa drei Jahre alt, als sie auch auf der zweiten Seite implantiert wurde: „Wir waren im Mutter-Kind-Turnen. Meine Mama hat mich gerufen, aber ich habe sie nicht gefunden, weil ich keine Orientierung hatte. Und dann die nächste Erinnerung nach der zweiten Implantation, dass das im Mutter-Kind-Turnen kein Problem mehr war.“
Was ist schon normal?
„Für mich war das CI normal“, erinnert sich Mariella Sturz an ihre Kindheit. Sie mit sonderpädagogischer Förderung in den Sprachfächern in der Oberstufe das Gymnasium mit Schwerpunkt auf Fremdsprachen absolviert. Sophie Adzic war im Kindergarten des Bundesinstituts für Gehörlosenbildung BIG: „Da haben mehrere Kinder CIs gehabt. Ich dachte immer, dass sei so wie eine Brille. Erst als ich älter wurde, habe ich verstanden, dass das nicht Normalität ist.“
Im Kindergarten des BIG gab es auch das Angebot, Gebärdensprache zu erlernen – die Familie startete schon vor der Implantation mit einem Kurs. „Ich wollte vorbereitet sein, wenn das CI nicht funktioniert“, erklärt Mutter Adzic-Frey. „Sophie ist uns aber mit der Lautsprache davon gelaufen.“ Es gäbe schon Situationen, wo Gebärde nützlich wäre, aber: „Da verwenden wir unsere eigenen Zeichen.“ Auch Mariella Sturz nützte die Möglichkeit nicht, Gebärdensprache zu erlernen: „Ich hab‘ mit meinen normalhörenden Freundinnen mein Leben genossen.“
Cochlea-Implantat-Träger fühlten sich zumeist nicht behindert, erläutert CI-Präsident Prof. Dr. Wolf-Dieter Baumgartner. Er nahm als CI-Spezialist an der Gesprächsrunde teil. Darin liege auch die Gefahr, dass CI-Nutzer international nur begrenzt über aktive Interessensvertretungen verfügten. „Das ist der beste Beweis, dass CIs gut funktionieren“, sieht es Dominique Sturz positiv. Doch gibt es auch in Österreich Herausforderungen, bei denen betroffenen Familien mehr Unterstützung benötigten.
Frauenpower für CI-Kinder
„Die Technik und die Chirurgie des CIs hat von Österreich seinen Ausgang genommen“, freut sich Baumgartner über mehr als 2000 erfolgreich implantierten Patienten. „Aber im Therapiebereich ist der angloamerikanische oder skandinavische Raum uns voraus.“
Er erklärt: „Der Chirurg hat die wenigste Arbeit beim CI: Die Operation dauert zwischen 40 Minuten und zwei Stunden, dann geht der Chirurg Kaffee trinken. Die meiste Arbeit haben die Eltern, und da die Mütter. Eine Studie in den frühen 2000er-Jahren zeigte, dass bei über 86 Prozent der Kinder die Mütter die Therapieleistung erbracht haben. Mehr als die Hälfte der Mütter haben ihren Beruf dazu aufgegeben.“
Sophies Mutter bestätigt: „Wir haben uns ganz intensiv mit Sophie befasst, sie hat ständig Feedback bekommen.“ Hilfe von der Frühförderstelle des BIG hätten sie sehr rasch gehabt und auch logopädische Therapie am dortigen Kindergarten sei einfach zu organisieren gewesen. Aber mit dem Wechsel in die Einzelintegration benötigten sie einen Platz bei einer niedergelassenen Logopädin und seien mit Wartezeiten von drei bis sechs Monaten konfrontiert gewesen.
„Das soll die Mama machen!“
„Wenn Sie in Österreich eine Hüftoperation haben, dann gehen Sie nachher zur physikalischen Therapie und zur Rehabilitation. Wenn sie ein CI bekommen, soll das die Mama zuhause machen“, klagt CI-Chirurg Baumgartner über die Situation der CI-Rehabilitation in Österreich. Ambulante Rehabilitation werde an den implantierenden Kliniken und an einzelnen Ambulanzen angeboten, „aber an großen Häusern mit vielen Operationen reichen die Kapazitäten nicht.“ Auch die Zahl der Logopäden mit Kassenvertrag sei ungenügend. Je nach Möglichkeit würden betroffene Familien auf privat finanzierte Therapieplätze ausweichen. Adzic-Frey schildert, wie kritisch sich die finanzielle Belastung für einige Familien entwickle: „Manche Kinder dürfen nur eines ihrer zwei Geräte tragen, um die Batteriekosten für das zweite System zu sparen“, für die Hörentwicklung eine kontraproduktive Situation. „Unsere Daten zeigen, dass der wesentliche Erfolg des CIs mit dem sozialen Gefüge und dem ökonomischen Status der Empfängerfamilie zu tun hat“, bestätigt Baumgartner.
Die Erfahrungen der Familien Sturz und Adzic spiegle aber trotzdem die Gegebenheiten der Vergangenheit wieder, so Baumgartner. „Wenn Sie zum Sternenhimmel schauen, sehen Sie auch das Licht von Sternen vor vielen Tausenden oder Millionen Jahren“, veranschaulicht der Kliniker die Situation. „Die Kinder, die ich heute am AKH implantiere, sind bei der Operation noch viel jünger und sie bekommen noch bessere Implantate. Wie weit das die Ergebnisse mit dem Implantat weiter verbessert, werden wir in 15 bis 20 Jahren sehen.“