Hörende CODA durch Cochlea Implantate
Spätestens in der Pubertät überflügeln uns unsere Kinder in der einen oder anderen Fähigkeit. Wenn gehörlose Eltern ihren taub geborenen Kindern ein Cochlea-Implantat ermöglichen, schenken sie ihnen damit frühzeitig Flügel – im Vertrauen, dass diese Kinder sich bald erheben werden, aber nicht davonfliegen.
Taube Kinder haben zu 90 Prozent hörende Eltern. Die entscheiden sich meist rasch nach Diagnosestellung zu einer Cochlea-Implantation ihrer taub geborenen Kinder. „Sie wollen ihr Kind ein Stück näher holen, es soll so sein wie sie“, analysiert Prof. Annette Leonhardt aus der Abteilung Präventions-, Inklusions- und Rehabilitationsforschung an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Für gehörlose Eltern stellt sich die Situation differenzierter dar. Sie bringen die Erfahrung mit, wie gehörlose Menschen ein glückliches und erfülltes Leben führen können. Eine Betroffene formuliert zusätzliche Bedenken: „Mit dem Implantat schicken Gehörlose ihr Kind mit Liebe in die hörende Welt, mit dem Risiko und der Angst es zu verlieren.“
Umgekehrt können rund 90 Prozent der Kinder gehörloser Eltern hören. Auch wenn die CI-Versorgung von Kindern gehörloser Eltern ein relativ junges Thema ist, können betroffene Familien aufbauen auf die langjährige Erfahrung dieser hörenden Kinder gehörloser Eltern, die auch kurz als CODA oder CodA – Children of Deaf Adults – bezeichnet werden. Das lässt sich aus der Studie von Annette Leonhardt ableiten. Die dabei entstehenden Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten sind aus der Erfahrung bekannt.
Frühe Erfahrungen im Fokus
1988 erfolgte die weltweit erste Cochlea-Implantation eines taub geborenen Kindes. „Die Gehörlosen […] nahmen zu dieser Zeit eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Cl ein. Sie erlebten sich als ausschließlich defizitär wahrgenommen und befürchteten die Zerstörung der Gebärdensprache und ihrer spezifischen Kultur“, schreibt Leonhardt. Dennoch wurden in Deutschland ab 1993 taube Kinder gehörloser Eltern implantiert – mit gutem Erfolg, wie Leonhardt recherchierte. Auch in Österreich bringen seit dieser Zeit gehörlose Familien ihre taub geborenen Kinder zur Implantation: Anfangs begrenzt auf einzelne Elternpaare, oft ermutigt von hörenden Angehörigen, steigt die Häufigkeit mittlerweile.
In ihrer Studie hat Leonhardt den Sprachgebrauch dieser implantierten CODA untersucht. Sie zitiert eines der Kinder: „Wenn meine Mutter etwas nicht versteht, helfe ich.“ In dieser Übersetzungshilfe, die von anderen Studienteilnehmern in ähnlicher Weise bestätigt wurde, sieht die Wissenschaftlerin eine Parallele zwischen CI-Kindern gehörloser Eltern und der typischen Lebensrealität von CODA.
Sonderkindergartenpädagogin Christine Kiffmann-Duller hat langjährige Erfahrung in der Begleitung gehörloser Eltern und ihrer Familien, auch mit CI-Kindern: „Mit den CI-Systemen ist diesen Kindern eine Welt eröffnet, die ihren Eltern nicht eröffnet ist. Aber sie sind nicht normalhörend – je nach Implantationsalter und Umfeld verhalten sich diese Kinder wie andere schwerhörige Kinder.“
Herausforderungen gehörloser Eltern
„Wenn bei einem Baby die Mutter nicht sichtbar ist, dann ist sie für das Kind zunächst tot“, so Univ.-Prof. Dr. Christoph Reuter. „Wenn die Mutter dabei singt oder spricht, weiß das Kind: Die Mutter ist in der Nähe.“ Tauben Kindern bleibt das verwehrt – eine Herausforderung für Bindungsarbeit und Entwicklung emotionaler Sicherheit und prägender Bestandteil der Biographie tauber Eltern. Kiffmann-Duller kennt auch den umgekehrten Effekt: „Eine hörende Mutter hört, wenn das Kind im Nebenraum weint. Eine gehörlose Mutter verwendet dazu ein Babyphone mit Blinksignal.“ Weitere Hürden für gehörlose Eltern folgen: In der Regel entsprechen weder Informationsangebote für junge Eltern, noch Elternabende am örtlichen Kindergarten oder in der Schule den Kommunikationsanforderungen gehörloser Eltern, zumal es im ländlichen Bereich oft schwer ist, Gebärdensprachdolmetscher zu organisieren.
Hiltrud Funk, ehemalige Leiterin des Pfalzinstituts für Hören und Kommunikation im deutschen Frankenthal, erachtet die Einschätzung einer Hör-Sprach-Entwicklung als schwierig für gehörlose Eltern: „Den eigenen hörenden Kindern werden Fähigkeiten zugetraut und zugeordnet, über die sie (noch) nicht verfügen.“ Kiffmann-Duller erzählt schmunzelnd von CODA-Geschwistern, die untereinander in Lautsprache kommunizieren, sodass die Eltern dem Gespräch nicht folgen können, die manchmal auch gemeinsam die Eltern „auf‘s Glatteis führen.“
Frühförderung und Familienbegleitung können beim Aufeinandertreffen der Welt der Gehörlosen und Hörenden aber helfen, auch innerhalb einer Familie. „Gehörlose Eltern sind in ihrer Kompetenz genauso herausgefordert wie alle Eltern“, ist Kiffmann-Duller überzeugt. „Ihren erschwerten Bedingungen, die sich durch die Hörbehinderung ergeben, stehen immer wieder besondere Fähigkeiten gegenüber, wie Einfühlungsvermögen, Willensstärke und Fleiß.“
Kinder zwischen Überforderung und Brückenbau
„Oft können sich hörende Kinder gehörloser Eltern in der gesprochenen Sprache und der Gebärdensprache gleichermaßen verständigen“, erklärt Kiffmann-Duller, warum hörende Kinder oft schon in jungen Jahren für ihre gehörlosen Eltern übersetzen. „CODA sind es gewohnt, sich ganz anders auf ihre Eltern einzustellen. Im familiären Bereich werden sie für kleine, sprachliche Hilfeleistungen herangezogen.“ Fallweise Unterstützung im Alltag sei auch kein Problem – die Expertin spricht diesen Kindern sogar überdurchschnittliche Sozialkompetenzen zu; sie warnt aber eindringlich vor Überforderung!
Für verantwortliches Dolmetschen beim Arzt oder in der Schule seien Kinder sprachlich überfordert oder fallweise auch versucht anders zu übersetzen, um die Situation auszunützen. Auch unabhängig davon sollen für solche Anlässe unbedingt offizielle Dolmetscher oder Außenstehende eingesetzt werden: „Die Kinder kommen sonst in einen Rollenkonflikt, verantwortungsvolle Rollen für die Familie oder Situation zu übernehmen.“
Begleitung in der Identitätsfindung zwischen zwei Welten und zwei Kommunikationssystemen ist für Kiffmann-Duller besonders wichtig für heranwachsende CODA. Sie sieht darin ein einmaliges Potenzial, auch für die Gehörlosengemeinschaft: „Kinder, die sowohl Laut- als auch Gebärdensprachkompetenz besitzen, haben Zugang zu beiden Welten – der gehörlosen und der hörenden. Sie können als Erwachsene am Verweben beider Welten, an der Realisierung einer inklusiven Lebenswelt mitwirken.“
Lautsprache als Zweitsprache beim CI
„Ich habe ein hörendes Kind gehörloser Eltern erlebt, bei dem war das erste Wort in Gebärdensprache, obwohl es viele hörende Menschen im Umfeld hatte“, zeigt sich Frühförderin Kiffmann-Duller noch immer verblüfft. Muttersprache von CODA ist die Gebärdensprache, doch in der Regel sei der Lautspracherwerb für CODA kein Problem.
Während hörende Kinder hörender Eltern in der Regel ohne spezielle Förderung altersgemäße Lautsprache entwickeln, steht bei CI-Kindern die lautsprachliche Förderung im Vordergrund. Bei frühimplantierten Kindern wird sie in der Regel wesentlich von den lautsprachlich kommunizierenden Eltern getragen – angeleitet und unterstützt von Frühförderung und Logopädie. Bei CI-Kindern gehörloser Eltern ist die Gebärdensprache als Mutter- und Familiensprache meist wesentlich für die familiäre Kommunikation und Bindung. Die Eltern können dann auch schon vor einer Implantation problemlos mit ihren Kindern kommunizieren, sie in der Regel nach der Implantation aber nur bedingt lautsprachlich fördern.
Nicht immer können hörende Großeltern in dieser Funktion unterstützen. Die in Leonhardts Studie befragten Familien in Deutschland hatten zumindest eine hörende Bezugsperson, einige der Kinder auch hörende Geschwister. Bei kleineren Kindern sind externe Förderstellen in die Hör-Sprach-Förderung eingebunden, später übernehmen meist Kindergarten oder Schule die Förderung. Zudem üben die Kinder ihre lautsprachlichen Fähigkeiten im hörenden Freundeskreis, im Sportverein und mit hörenden Familienmitgliedern. Wenn die Familie regen Kontakt zur Gehörlosengemeinschaft pflegt, haben CI-CODA CI-Kindern hörender Eltern oft voraus, dass sie auch außerhalb einer Sonderschule Gleichaltrige in ähnlichen Situationen kennen.
Informierte Entscheidung bedarf der Information
Die ersten gehörlosen Eltern, die sich für ihr Kind für ein CI entschieden, stießen teilweise auf Misstrauen und Ablehnung von Seiten der Gehörlosengemeinschaft. Die Gründe dafür waren wohl vielfältig, mangelnde Information mag einer davon gewesen sein. Seit 2000 entschieden sich immer mehr gehörlose Eltern für ein CI für ihre taub geborenen Kinder. Den aktuellen Eltern der Gehörlosenszene attestiert Leonhardt einen Informationsvorsprung gegenüber hörenden Eltern, da das Thema CI lange Zeit „Gesprächsthema in der Szene“ gewesen sei. Mitunter klagen die Betroffenen bezüglich ihrer Entscheidung zum CI trotzdem über Skepsis und Ablehnung innerhalb der Gehörlosengesellschaft.
Bei der heurigen Generalversammlung der Vereinigung der europäischen CI-Selbsthilfevereine EURO-CIU wurden auch mehr Informationsmaterialien zum CI gefordert, die speziell für die Kommunikationsbedürfnisse gehörloser Eltern formuliert sind. Gemeinsame Veranstaltungen von CI- und Gebärdenvertretern, wie die DEAFplus im Frühling 2019 in Linz, unterstützen den Austausch aktueller Informationen. In Österreich stehen betroffenen Familien vier Gehörlosenambulanzen zur Verfügung, die mit Fachwissen auch zum CI, der Möglichkeit zur gebärdensprachlichen Kommunikation und einem bewährten Vertrauensverhältnis zu den Betroffenen punkten. Die Kinder- und Jugendhilfe gewährleistet betroffenen Jungfamilien über die Bezirkshauptmannschaften auch Angebote zur interdisziplinären Frühförderung und Familienbegleitung, die sich den beschriebenen Kriterien ebenfalls verpflichtet fühlen.
Auf Augenhöhe zum Erfolg
Die Studienergebnisse bestätigen eine gute Entwicklung lautsprachlicher Fähigkeiten bei CI-Kindern gehörloser Eltern, wenn die Familien vom CI-Zentrum und den Förder- und Pädagogikeinrichtungen unterstützt werden. Leonhardt mahnt dabei ein, dass sich die Fachleute der besonderen Situation dieser Familien bewusst sein müssen und dass die Eltern des Kindes immer Hauptansprechpartner und Entscheidungsträger sind: „Hörende Bezugspersonen der Familie dürfen nicht in den Verantwortungsbereich der Eltern eingreifen.“ Die Entscheidungsverantwortung der Eltern betont sie auch besonders im Hinblick auf eine respektvolle Zurückhaltung implantierender Kliniken.
„Wir sind überzeugt, dass eine Implantation die Chancen der Kinder auf ein erfülltes Leben erhöht, doch gegen den Willen der Eltern lehnen wir sie ab“, bekannte auch CIA schon 2017. Auch, weil die motivierte Unterstützung der Eltern eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche CI-Nutzung bei Kindern ist. Motivation aber entsteht aus Überzeugung, nicht aus Druck oder Zwang.
Entscheiden sich gehörlose Eltern für die Implantation ihres Kindes, beeinträchtigt das die Familiensituation nicht, die Beziehung zu hörenden Familienmitgliedern profitiert sogar. Implantierte Kinder gehörloser Eltern wachsen ähnlich wie hörende Kinder gehörloser Eltern auf. Sie können in der Regel bilingual kommunizieren und sind in beiden Gesellschafts- und Kulturkreisen zuhause.
Literatur-Quellen:
Leonhardt A. Wenn gehörlose Kinder hörend werden… https://doi.org/ 10.1055/ a-0790-0934 Laryngo-Rhino-Otol 2019; 98: 85-90 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0935-8943
Kiffmann-Duller C., Interdisziplinäre Frühförderung und Familienbegleitung für hörende Kinder gehörloser Eltern (JWG), 2011