Den Geschichten dieses großartigen Erzählers zu folgen, bedeutet beispielsweise am Gipfel des Everest die atlantische Brandung zu hören.
Birgitt Valenta, Specialist, Marketing Project Management, MED-EL Wien
Und so kommen wir zu Der fliegende Berg: Der 61-jährige österreichische Autor Christoph Ransmayr ist so eine Art Spezialist für schwer zugängliche Terrains. In Geniestreichen wie Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Die letzte Welt (1988) oder Morbus Kitahara (1995) hat er sich auch sprachlich in ganz abgelegene Gebiete der Erd- und Literaturgeschichte gewagt, die nicht nur ans Ende kartographischer Erfassbarkeit, sondern nicht selten auch ans Ende des Lebens – und der Zeiten – führten.
Stilistisch und inhaltlich geht Ransmayer auch in Der fliegende Berg diesen Weg: Zwei Brüder machen sich jenseits aller Vernunft auf die abenteuerliche Reise zu einem Berg im Osten Tibets, der von einem Piloten im Moment größter Gefahr entdeckt worden ist und höher als der Mount Everest sein soll – wobei nur einer der Brüder die phantastische Fahrt zum mehr als obskuren Objekt der Begierde überlebt. Dabei werden mit Liebe, Freundschaft und Tod wieder einmal einige existentielle Themen gestreift und von unterschiedlicher Seite beleuchtet. Gehalten ist das Buch in freien Versen. Selbst wenn sich ein Teil des Textes auch als Fließtext ohne die Zäsuren der Verse hätte schreiben lassen, ergibt sich durch diese ungewöhnliche Form eine ganz eigenwillige, den Stoff unterstützende Wirkung, die man nur dann voll erfasst, wenn man bereit ist, den Text laut zu lesen.
Mit seinem Freund Reinhold Messner hat Ransmayr ausgedehnte Touren durch den Osten Tibets unternommen. Hat er sich von den dramatischen Ereignissen des Sommers 1970 inspirieren lassen, als Reinhold Messners Bruder Günther bei einer gemeinsamen Nanga-Parbat-Expedition ums Leben kam? Dass Messners persönliches Brüderdrama das Buch beeinflusst hat, bestätigt der Autor weder, noch bestreitet er es: „Die Geschichte der Messner-Brüder hat mich ja nicht nur deshalb interessiert, weil ich mit Reinhold Messner seit vielen Jahren befreundet bin“, so Ransmayr, „sondern weil mich Brüdergeschichten ganz generell schon seit den Tagen beschäftigen, an denen ich zum ersten Mal von unserem Dorfpfarrer in Roitham bei Gmunden von der Geschichte der Brüder Kain und Abel gehört habe. Die hat ja irgendwann auch zur Frage geführt: Können Brüder einander töten? Aber auch zur Frage: Bin ich der Hüter meines Bruders? Eine empörend freche, kühne Antwort Kains auf die Frage Jahwes. Die Ungeheuerlichkeit dieser Gegenfrage hat mich immer wieder beschäftigt. Das, inwieweit wir verantwortlich sind für Leute, die wir unsere Brüder nennen oder die tatsächlich unsere Brüder sind, das ist etwas, was mich am Archetypus dieser Geschichte interessiert hat.“
Bergsteigerliteratur vom Feinsten – Bergsteiger, Kletterer und Trekking-Fans werden sich auf Anhieb mit diesem Werk anfreunden. Die Welt, die Ransmayr schildert, ist eine Welt aus Schnee und Eis, Angst und Erfüllung, Gipfelsehnsucht und Draufgängertum. Ransmayr muss es ja wissen, ist er nach eigenem Bekunden doch selbst ein Bergfex, ein leidenschaftlicher Alpinwanderer. „Mich fasziniert bis heute etwas ganz Bestimmtes an den Bergen: Besteigt man einen Berg, unternimmt man in gewisser Weise auch eine Zeitreise. Je höher man kommt, umso weiter geht man zurück in der Menschheitsgeschichte“, so Ransmayr. Das Reisen und das Gehen, das Innehalten und das Schauen sind seine Leidenschaft, sein Metier.
Christoph Ransmayr ist kein Dichter, der sich ein Denkmal wünschen würde. Aber wenn er sich eines wünschen müsste, dann wäre es zweifellos ein bewegliches, kein Standbild, sondern eines, das umhergeht, das unterwegs ist. Viele Schriftsteller unserer Tage sind weit herumgekommen, zumeist als Handlungsreisende in eigener Sache, aber mit der Art und Weise, wie Ransmayr seiner Wege geht, hat das nicht das Geringste zu tun. Geboren und aufgewachsen ist er als Sohn eines Volksschullehrers in einem kleinen Dorf in Oberösterreich. Die Familie hatte weder Fernseher noch Auto. Reisen wurden zu Fuß unternommen – oder in der Imagination. Das hat ihn geprägt.
Christoph Ransmayr zählt zweifellos zu den bedeutendsten Vertretern postmodernen Erzählens. Die „Zeit“ etwa spricht von einer „Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Seine Werke haben sich einen Ruf bis weit über den deutschsprachigen Raum hinaus erworben und wurden bisher in über 30 Sprachen übersetzt.
Die fulminante Erzählweise und sein ausgeprägter Sinn für bildhafte Darstellungen bereichern alle seine Werke, die er in der Hörbuchform stets selbst liest. Daher ist aus meiner Sicht in diesem Falle der Argon-Verlag zu empfehlen, der auch seine zu Beginn bereits erwähnten Romane wie Die letzte Welt oder Atlas eines ängstlichen Mannes als Hörbuch anbietet. Universal Music wartet mit Die Schrecken des Eises und der Finsternis, seinem Debütroman, auf und wird ebenfalls vom Verfasser selbst gelesen.
Die ersten Verse dieses besonderen Romans, deren hohes Qualitätsmaß bis zur letzten Seite beispielloses Lese- und Hörabenteuer bietet:
Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel
am 4. Mai im Jahr des Pferdes.
Der Ort meines Todes
lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel,
in deren Windschatten
ich die Nacht überlebt hatte.
Die Lufttemperatur meiner Todesstunde betrug -30° Celsius
und ich sah,
wie die Feuchtigkeit meiner letzten Atemzüge kristallisierte
und als Rauch in der Morgendämmerung zerstob.
„Und wieder einmal lotet Ransmayr mit der ganzen Kraft seines sprachlichen Talents aus. Der fliegende Berg ist Prosa in Vollendung, irgendwo angesiedelt an der Spitze der deutschsprachigen Literaturlandschaft, von der man schon dachte, es würde sie gar nicht mehr geben: hoch auffliegend, könnte man sagen.“ (Zitat Thomas Köster, NetzwerKulturWissenschaft)
Buch: Der fliegende Berg, Fischer Taschenbuch, ISBN-10: 3596171954, ISBN-13: 978-3596171958
Hörbuch: Der fliegende Berg, Argon Verlag, ISBN-10: 3866101007, ISBN-13: 978-3866101005, AUDIAMO Bestellcode: 87688, Medium: 8 CD(s), Laufzeit: 565 Minuten