Die natürliche Fähigkeit beidseits zu hören ermöglicht Sprachverstehen in geräuschvoller Umgebung und Lokalisation von Schallquellen. Cochlea-Implantate können helfen, die im Alltag wichtigen Funktionen zu entwickeln.
Das Smartphone läutet, eigentlich möchte Johanna abheben – doch wo liegt das Telefon jetzt eigentlich? Die meisten Menschen können ihr Smartphone akustisch orten, auch wenn sie es nicht sehen. Johanna Pätzold konnte das lange nicht. Sie hat im Zuge einer Erkrankung das Hörvermögen auf der rechten Seite verloren. Obwohl sie links normal hören konnte, konnte sie weder Schallquellen lokalisieren noch einer Konversation in einer größeren Runde oder in lauter Umgebung folgen. Kommunikation war viel anstrengender als zuvor mit zwei Ohren. Besonders schlimm war für die angehende Profimusikerin der Verlust an Volumen beim Musikhören: „Mit zwei Ohren konnte ich die feinen Nuancen und die Dynamik hören, die Musik so emotional machen.“
Eines von tausend Neugeborenen ist einseitig hörbeeinträchtigt, im weiteren Lebensverlauf kommen durch progredienten (fortschreitenden) Hörverlust, Erkrankungen und Unfälle weitere Betroffene dazu: Im Schulalter sind es bereits drei bis sechs Prozent der Kinder. Ist am betroffenen Ohr das Sprachverstehen auch mit optimaler Hörgeräteversorgung nicht mehr möglich, spricht man von einseitiger (funktionaler) Taubheit oder Single Sided Deafness – SSD.
CI für beidseitiges Hören
Bei Kindern haben einseitige Höreinschränkungen umfangreiche Auswirkungen nicht nur auf auditive Fähigkeiten – Lokalisation, dreidimensionaler Klang und Sprachverstehen im Störschall – sondern sie wirkt sich auch weitergehend auf deren Sprachentwicklung aus, auf die schulische Laufbahn und die sozialen Fähigkeiten. Die Arbeitsgemeinschaft Audiologie der Gesellschaft für HNO‐Heilkunde sieht deswegen in der aktuellen Richtlinie eine beidseitige Kontrolle des Hörvermögens bei Neugeborenen vor und empfiehlt eine apparative Versorgung auch bei einseitigen Hörstörungen. Im 25. Lebensmonat wird eine Hör‐ und Sprachabklärung an einer pädaudiologischen Einrichtung empfohlen, also bei Kinder-HNO-Facharzt oder -Klinik. Die Hör- und Sprachentwicklung soll evaluiert werden und wenn notwendig sollen auch weitere Schritte eingeleitet werden.
Bei Kleinkindern mit Höreinschränkungen von 70 Dezibel und mehr empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft eine Cochlea-Implantation am betroffenen Ohr.
Auch bei einseitig tauben Erwachsenen ist das CI in Österreich, wie auch in vielen anderen Ländern, im Kommen. „Bilaterale Cochlea-Implantation entwickelte sich in den letzten zehn Jahren in vielen Ländern zur gängigen Praxis”, erklärt Reinhold Schatzer. Er ist Spezialist für Kodierungssysteme bei MED-EL, Hersteller für Hörimplantate: „In Kenntnis des Vorteils bilateraler Implantation und mit Blick auf die Hördefizite, die von den Betroffenen einer einseitigen Taubheit berichtet werden, haben
Kliniker die Indikation zur Cochlea-Implantation auch auf Patienten mit einseitiger Taubheit erweitert. Beidseitiges Hören bietet für diese Nutzer dieselben Vorteile wie für bilateral implantierte CI-Nutzer: Verbessertes räumliches Hören, bessere Schalllokalisation und einfacheres Sprachverstehen auch bei mehreren Sprechern gleichzeitig.“
Natur imitieren und mit Natur kooperieren
Lange Zeit wurde auch von manchen Fachleuten bezweifelt, ob eine Kombination akustischer Signale und elektronischer Stimulation vom Hörzentrum sinnvoll interpretiert werden könne. Diese Zweifel konnten mittlerweile vollständig widerlegt werden. Es hat sich tatsächlich gezeigt, dass es sich förderlich auf die Integration der beiden unterschiedlichen Nervenreize auswirkt, wenn die elektrische Stimulation möglichst ähnlich dem natürlichen, neuronalen Signal ist.
So kann mit einer langen, tief inserierten CI-Elektrode der Hörnerv bei hohen und tiefen Tönen jeweils dort stimuliert werden, wo das auch beim natürlichen Hören der Fall ist. US-amerikanische Studiendaten zeigen zwar, dass die Plastizität des Gehirns es ermöglicht, dass ein CI-Nutzer sich auch an örtlich verschobene Reize gewöhnen kann und lernen kann, sie den richtigen Tonhöhen zuzuordnen. Gleichzeitig zeigen aber gerade diese Daten, dass dazu eine erhöhte kognitive Leistung nötig ist, die einer Leichtigkeit beim Hören entgegensteht.
Auch der plakative Fallbericht eines einseitig tauben CI-Nutzers der US-amerikanischen Universitätsklinik Kansas zeigt, dass der Tonhöheneindruck der Stimulation wesentlich vom Ort der Stimulation abhängt, also von der Elektrodenlänge und Insertionstiefe. Bei Frequenzen bis 1000 Hertz berichtet dieser Nutzer aber auch, dass die Stimulationsgeschwindigkeit Einfluss auf den Tonhöheneindruck hat. Berücksichtigt werden diese Erkenntnisse bei der Feinstruktur-Kodierung, wie sie derzeit aber ausschließlich von MED-EL angeboten wird.
Studienergebnisses ermutigen
Forschungsergebnisse in Österreich und Deutschland zeigen, dass einseitig ertaubte Patienten, die ein Cochlea-Implantat erhalten und im Anschluss im Rahmen der Hörrehabilitation das Hören mit CI üben, sich meist sehr rasch an die neuartige Schallübertragung gewöhnen. Förderlich ist es, wenn die Phase der Taubheit noch nicht lange andauert. Aktuelle Ergebnisse beidseits taub geborener Kinder in Großbritannien lassen sich aber auch umlegen auf einseitig taube Betroffene: Auch bei der relativ späten Herstellung binauraler Hörfähigkeit ist es realistisch, binaurale Hörfähigkeiten zu erwarten.
Obwohl bei einseitig tauben CI-Nutzern generell mit einer etwas längeren Rehabilitationszeit zu rechnen ist als mit beidseits tauben Nutzern, nehmen die Betroffenen durchschnittlich schon nach drei bis sechs Monaten Verbesserungen beim Hören und Verstehen wahr. In Folge verbessern sich auch die Selbstsicherheit der Betroffenen sowie deren Möglichkeit zu sozialen Interaktionen und zu diversen Aktivitäten. Auf längere Sicht steigt damit auch die allgemeine Lebensqualität signifikant, wie die Studiendaten ebenfalls zeigen.