Viele hörbeeinträchtigte Menschen nützen Lippenlesen in der Kommunikation. Die vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutzmasken ist für sie ein Hindernis, Ausnahmeregelungen, Masken mit Sichtfenster oder Sichtvisiere können helfen, gut angepasste Hörsysteme sind hilfreich.
„Tschuldigung, wüvü macht‘s aus? I hea so schlecht mit dem Mundschutz!“ (Wienerisch: „Entschuldigung, was macht das aus? Ich höre mit dem Mundschutz so schlecht!!“) Nicht nur ältere Menschen, deren Hörvermögen allmählich schwächer wurde, nützen in der Kommunikation – manchmal auch unbewusst – das Mundbild, auch viele Nutzer von Hörgeräten oder Hörimplantaten, sowie Gehörlose in der Kommunikation mit hörenden Gesprächspartnern.
„Taube Menschen sind nun völlig aufgeschmissen“, erklärt Detlef Klussmann vom Düsseldorfer Behindertenrat, selbst CI-Nutzer. „Viele Gehörlose lesen ihrem Gesprächspartner von den Lippen ab. Das ist nun aufgrund der Maskenpflicht nicht mehr möglich.“ „Uns ist bewusst, dass die Gesundheit aller im Vordergrund steht. Trotz alledem muss der breiten Öffentlichkeit ebenso klar werden, dass eine große Anzahl hörgeschädigter Menschen […] durch die Maskenpflicht massiv in ihren kommunikativen Möglichkeiten eingeschränkt wird. Das ist auf Dauer kaum erträglich“, so Michael Schwaninger, Vorsitzender des Cochlear Implant Verband Hessen-Rhein-Main, auf der Vereinswebsite. In Österreich geht es dabei um geschätzte 1,7 Millionen Menschen. (Vom Hören und Sagen – Grundlageninformation über das Hören)
Selbst eine Kommunikation in Gebärdensprache wird durch MNS-Masken beeinträchtigt, denn auch die Mimik ist Bestandteil der einzelnen Gebärden. „Gebärdensprache ist auch keine Lösung, da wir und unser Umfeld in der Regel komplett lautsprachlich kommunizieren“, dazu Schwaninger, der auch im Vorstand bei der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft DCIG ist. „Ein weiterer, bisher kaum beachteter Aspekt ist zudem die Abstandsregelung. Je weiter man voneinander entfernt steht, desto leiser kommt das Gesagte beim Zuhörer an.“
25 Prozent verstehen erheblich schlechter
In Italien hat die Corona-Pandemie schon früher zu Erkrankungen geführt als bei uns. Auch dort haben Schwerhörigenvereinigungen darauf aufmerksam gemacht, dass Patienten mit Hörproblemen aufgrund des Mundschutzes vermehrt unter Kommunikationsproblemen leiden. Besonders war das im Bereich der Notaufnahme aufgefallen. Sowohl akustische Filterwirkung der Schutzmaske als auch das Abdecken des Lippenbilds durch die Maske wurden dafür verantwortlich gemacht.
Die Wissenschaftler der Universitätsklinik in Foggia, in Süditalien, untersuchten diese Problematik mit wissenschaftlichen Methoden. Dazu wurden 59 hörbeeinträchtigte Patienten mit unterschiedlichen Beschwerden, durchschnittlich 60 Jahre alt, nach ihrer Behandlung befragt, wie sie die Kommunikation an der Notaufnahme empfunden hatten. Über 85 Prozent der Befragten klagten über Verständnisprobleme, fast ein Viertel sogar über erhebliche. Die Schalldämmung durch die Mundmasken war für 44 Prozent störend, fast 56 Prozent der Befragten fehlte das Lippenbild.
Masken zum Fensterln gehen!
Österreichische Medien berichteten von der US-Amerikanerin Ashley Lawrence, die Inklusive Pädagogik an der Eastern Kentucky University in Richmond im US-Bundesstaat Kentucky studiert und gemeinsam mit ihrer Mutter MNS-Masken mit Sichtfenster näht. „Ich habe auf Facebook gesehen, dass Leute Masken für andere nähen, damit nicht alle die Wegwerfmasken verwenden. Und ich dachte, was ist mit der gehörlosen und schwerhörigen Bevölkerung?“, sagt sie im Interview mit der Nachrichtenplattform Lex 18. „Wir probieren verschiedene Modelle für Menschen mit Hörgeräten aus, weil sie sich die Gummibänder der Masken nicht ums Ohr spannen können.“
In den Medien und auf Internet finden sich zahlreiche Berichte über solche meist privaten Initiativen, die selbstgenähte NMS-Masken mit Sichtfenster kostenfrei oder zumindest günstig verteilen. Auch Fachgeschäfte reagieren auf die Anfrage: So bietet beispielsweise ein Sanitätsbedarf in Wien Stoffmasken aus Baumwolle mit Kunststoff-Sichtfenster an, auch online. Sie kosten fast gleichviel wie FFP2-Masken, die auch den Träger selbst schützen – gut dreißig Prozent über dem Preis für herkömmliche NMS-Masken.
Auch in der Kommunikation mit kleinen Kindern oder geistig behinderten Menschen könnten Masken mit Sichtfenster hilfreich sein, erklärt die Sonderpädagogin Jojo Giese aus dem deutschen Mannheim dem Magazin Regenbogen. Sie seien für alle hilfreich, die Angst vor verhüllten Gesichtern haben oder für die Mimik und Gesichtsausdruck wichtig sind. „Wenn das Mundbild auch noch wegfällt, entfällt ganz viel Informationsaufnahme, Kontextaufnahme und kleine Details, die man einfach braucht, um das Gegenüber richtig zu verstehen.“ Gemeinsam mit Bärbel Steegmüller hat sie zwei Versionen solcher Masken entwickelt. Als Materialien verwenden sie einfach ein Stück Stoff, eine Plastiktischdecke und Schnürriemen. Die Nähanleitung stellen die beiden per Videos online zur Verfügung.
Klare Barrieren für das Virus
Um ihren Mitarbeitern einen Arbeitstag mit MNS-Maske zu ersparen, schirmen manche Geschäfte Kunden und Mitarbeiter an der Kasse mit Plexiglasscheiben voneinander ab. Aber auch Gesichtsvisiere aus Klarsichtmaterial stellen eine Barriere vor Tröpfcheninfektion dar. Sie sollten das Gesicht von der Stirn bis inklusive zum Kinn abdecken sowie auch seitlichen Schutz bieten. Bisher haben schon vereinzelt Zahnärzte solche Visiere verwendet.
Mancherorts wird zwar noch diskutiert, ob Gesichtsvisiere auch tatsächlich die Funktion einer MNS-Maske voll ersetzen. Eine Presseaussendung von Arbeits- und Sozialministerium attestiert jedenfalls, ein Visier „sitzt stabiler und durchfeuchtet nicht“. Im Handel sind Gesichtsvisiere für diesen Zweck schon ab etwa 15 Euro zu erstehen, können je nach Ausführung aber auch ein Vielfaches kosten. Im
Selbstbau lässt sich ein einfaches Gesichtsvisier beispielsweise aus der Klarsichtfolie eines alten Heftbinders herstellen.
„Seh ich nix, versteh ich nix!“
Ob MNS-Masken mit Sichtfenster oder ein transparentes Gesichtsvisier: Wenn die Betroffenen selbst sie benützen, hilft ihnen das wenig. Nur wenn die jeweiligen Gesprächspartner den transparenten Virenschutz nützen, hilft das Menschen mit Hörbeeinträchtigung bei der Kommunikation.
Der Linzer Selbsthilfeverein Von Ohr zu Ohr empfiehlt deswegen schwerhörigen Klienten, stets Kärtchen oder Blätter mitzuführen, die auf den Umstand „Ich bin schwerhörig und brauche zum Verstehen auch das Mundbild“ hinweisen. Die Junge Selbsthilfe Deaf-Ohr-Alive Rhein-Main möchte einen solchen Hinweis in schwungvollem Wording gleich auf die eigenen MNS-Masken setzen. „Seh ich nix, versteh ich nix“, könnte da stehen, „Ich sehe nicht, was du sagst“ oder „Du kannst mich verstehen, aber was ist mit mir?“
Gesprächspartner von hörbeeinträchtigten Personen könnten für die Dauer einer kurzen Kommunikation die Maske abnehmen. Zumindest im deutschen Bundesland Hessen gilt seit 30. April eine Weisung an das Ordnungspersonal, das für die Einhaltung der Maskenpflicht verantwortlich ist, das zeitweise Abnehmen des Mundschutzes im Sinne einer besseren Kommunikation mit hörbehinderten Gesprächspartnern bei Einhalten des Sicherheitsabstands von mindestens 1,5 Metern nicht zu ahnden. Die Weisung bezieht sich ausdrücklich auf den Einzelhandel und den öffentlichen Bereich.
Maskenpflicht – bei uns daheim
Auf Facebook tauschen österreichische Betroffene ihre Erfahrungen aus: „Ich war heute auf der Post und habe den Beamten schlecht verstanden. Er nahm die Maske nicht ab!“ „Bei der Bitte um Abnahme zwecks besserer Verständigung geben die Leute die Maske bis zur Nase hinunter“, klagt eine andere Betroffene, dass das Lippenbild dabei verdeckt bleibt. Ein Dritter antwortet: „Ich wurde gerade von der Polizei kontrolliert. Ich habe gebeten, die Maske herunter zu nehmen, damit ich verstehen kann: war kein Problem.“ „Das habe ich auch gemacht, als ich kein Gerät getragen habe“, freut sich ein CI-Nutzer darüber, dass das mit dem Implantat-System nicht mehr nötig ist.
Eine Weisung wie in Hessen gibt es hierzulande zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses nicht, wohl aber eine gemeinsame Presseaussendung des Sozialministeriums und Bundesministeriums für Arbeit, Familie und Jugend*: „Ein Gesichtsvisier ist eine geeignete und praktische Alternative zum Mund-Nasen-Schutz“, stellt Arbeitsministerin Christine Aschbacher darin klar. Gesundheitsminister Anschober ergänzt mit der ab 1. Mai gültigen Formulierung in den Verordnungen des Bundesministeriums: „,Eine, den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung‘. Damit ist ein Gesichtsvisier auch eine gute Alternative zum Mund-Nasen-Schutz.“
Sind weder MNS-Maske mit Fenster noch Gesichtsvisier zur Hand, bleibt noch Block und Stift – oder natürlich eine optimal angepasste, beidseitige Hörversorgung, die audio-verbale Kommunikation hinlänglich ermöglicht. So wie bei Gabriele Woditschka, bilaterale Nutzerin von Cochlea-Implantaten: „Wenn jetzt in der Corona-Krise viele Mundschutz verwenden müssen, verstehe ich mit den CIs auch ohne Lippenlesen. Das wäre mir mit Hörgeräten nicht möglich gewesen.“
*Presseaussendung OTS_20200501_OTS0028 vom 1.5.2020 Sozialministerium und Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend