Die Rolle der Väter in der Kindererziehung und Frühförderung
Die Rollenverteilung von Vater und Mutter hat sich in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren verändert. Bei der Förderung hörbeeinträchtigter Kinder werden die Stärken der Väter aber immer noch zu wenig genützt.
Manfred Hintermair
Obwohl Väter in der Regel immer noch viel weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen als die Mütter, hat sich die durchschnittliche Beteiligung der Väter an der Bildung und Erziehung ihrer Kinder erkennbar erhöht. Einerseits äußern Väter von heute vermehrt den Wunsch nach mehr gemeinsamer Zeit mit der Familie, andererseits wollen viele Mütter auch mit Kindern ihren beruflichen Tätigkeiten weiter nachgehen. Das trägt zu einer Umverteilung der familiären Aufgaben bei.
Dennoch stammt nach wie vor der größte Teil unseres Wissens zu Themen wie Belastungen oder Umgang mit der Behinderung aus Befragungen von Müttern. Auch ein Blick in die Frühförderpraxis zeigt: Vorwiegend die Mütter sind Ansprechpartnerinnen für die Frühförderung. Das überrascht, da ja heute familienorientiertes Vorgehen angestrebt wird: Dabei ist der Blick auf alle Mitglieder der Familie und deren Bedürfnisse gerichtet.
Es lohnt sich in jedem Fall, die Väter deutlicher als bisher mit „ins Boot zu holen“!
Was Väter beitragen können
Es gibt mittlerweile umfangreiche Erkenntnisse, welche Bedeutung die Väter für die Entwicklung bei Kindern ohne Behinderung haben, und welche Bedeutung das insgesamt für die Familie hat.
So zeigen Kinder, deren Väter sich an der Erziehung aktiv beteiligen, zum Beispiel eine bessere sprachliche und kognitive Entwicklung in der frühen Kindheit. Sie weisen weniger Verhaltensprobleme in der Vorschul- und Schulzeit auf und haben in der frühen Kindheit positivere Beziehungen zu anderen Kindern. Auch die selbstregulatorischen und prosozialen Fähigkeiten dieser Kinder entwickeln sich besser; also die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, das Verhalten selbst zu steuern und hilfsbereit zu sein.
Väter leisten somit einen wichtigen Beitrag in der Erziehung ihrer Kinder. Scheinbar verfügen Väter über Kompetenzen, welche die Kompetenzen der Mütter in gleichwertiger Weise ergänzen.
Die Rolle von Väter: gleichwertig, nicht gleichartig
Gleichwertige Kompetenzen in der Erziehung bedeuten nicht, dass Mütter und Väter alles gleich machen. Man weiß zum Beispiel, dass Väter anders mit ihren Kindern spielen als die Mütter: Sie bevorzugen meist motorisch aktive, „wildere“ Spiele. Sie toben mit den Kindern herum und fördern Wettkampf-Aktivitäten. Väter zeigen eine höhere Risikobereitschaft in den Dingen, die sie mit ihrem Kind machen: „Die steile Rutsche packen wir locker zusammen.“ Väter reagieren manchmal auch ruhiger, wenn ihr Kind traurig ist und Trost sucht.
Für die kindliche Entwicklung scheint das hilfreich zu sein: Unterschiedliche Handlungsweisen bei Müttern und Vätern sorgen für vielfältigere Erfahrungen des Kindes. Es macht die Welt für ein kleines Kind interessanter, wenn Mama und Papa nicht das Gleiche tun, sondern unterschiedlich mit ihnen agieren und auf sie reagieren.
Die Beziehung muss stimmen
Auch bei unterschiedlichem Umgang mit den Kindern: Die grundlegenden Qualitäten der Interaktionen von Vätern und Müttern mit ihren Kindern sind dieselben. Eltern, die ihren „Job“ gut machen, gehen angemessen auf die Bedürfnisse der Kinder ein. Sie reagieren auf die Interaktionsbeiträge ihrer Kinder, ermutigen sie, die Umwelt zu erkunden und unterstützen ihre Lernprozesse. Diese Verhaltensweisen beinhalten alles, was wir aus der Forschung über die Rolle von Sensitivität (Feinfühligkeit für die Signale, die das Kind sendet) und Responsivität (Bereitschaft, auf Kommunikationsversuche des Kindes zu reagieren) für eine gute Entwicklung wissen. Damit das möglich ist, müssen auch Väter in möglichst großem Umfang die Möglichkeit haben und nutzen, sich an der Erziehung zu beteiligen. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: persönliches Interesse der Väter, Qualität der innerfamiliären Beziehungen und kulturelle Einflüsse, um nur einige zu nennen. Wichtig ist, wie sehr die Eltern in ihren Erziehungsvorstellungen übereinstimmen und wie gut die Beziehung zwischen ihnen ist. Natürlich ist es hinderlich, wenn die Arbeitssituation des Vaters eine aktive und intensive Beteiligung erschwert.
Frühförderung hilft auch den Vätern
Über die Erfahrungen, die Bedürfnisse und das Engagement von Vätern behinderter Kinder ist vergleichsweise wenig bekannt: Sie haben bislang nicht genug Berücksichtigung erfahren – in der Forschung wie in der pädagogischen Praxis. Sicher ist, dass Väter von Kindern mit Behinderung genauso emotional betroffen sind wie die Mütter: Sie sind ebenso besorgt, ob sie ausreichend in der Lage sein werden, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen und ob die Familie genug an praktischer und emotionaler Unterstützung finden wird. Auch die Väter müssen wie die Mütter ihre Lebensplanung und Lebensziele im Zuge der Diagnosestellung neu sortieren!
Wie belastend Väter die Situation mit ihrem hörbehinderten Kind erleben, ist interessanter Weise auch eng damit verknüpft, wie sehr sie sich als selbstwirksam und kompetent im Umgang mit ihrem Kind wahrnehmen. Je kompetenter sich Väter hierbei erleben, umso weniger fühlen sie sich durch die Behinderung belastet. Auch deswegen sollten wir Vätern mehr Beteiligung an der Frühförderung ihres Kindes ermöglichen, denn mehr Beteiligung stärkt auch ihre Kompetenzen in der Elternrolle. Das bestätigen die Ergebnisse einer Studie, die wir 2018 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg dazu durchgeführt haben: Väter von hörgeschädigten Kindern, die sich von der Frühförderung ihres Kindes besser unterstützt fühlten, schätzten sich in Bezug auf die Herausforderungen bei der Erziehung ihres Kindes als kompetenter ein.
Väter äußern ihre Betroffenheit anders
Vätern gehen mit der Behinderung ihres Kindes meist anders um als die Mütter. Bei gleicher Betroffenheit neigen Väter dazu, nach außen weniger emotional zu reagieren. Sie scheinen in ihrem Bewältigungsverhalten häufig eher rational und kognitiv zu agieren. Väter tendieren auch mehr dazu, sich um auftretende Probleme und Schwierigkeiten zu kümmern, die sich außerhalb des engeren Kreises der Familie im Kontext der Behinderung ergeben: zum Beispiel die Beantragung von Pflegegeld und andere sozialrechtliche Hilfen, oder die Suche nach weiteren Behandlungsmöglichkeiten.
Die Mütter sind dagegen mehr mit den alltäglich anfallenden Aufgaben und Herausforderungen in der Erziehung und Pflege des behinderten Kindes befasst. Auch hier sollte man die Unterschiede in den Reaktionen auf die Behinderung des Kindes positiv betrachten und nutzen: Alle leisten ihren individuellen Beitrag für ein komplexes Ganzes!
Wie wir Väter einbeziehen
Obwohl Väter eine wichtige Rolle im Erziehungsprozess einnehmen, scheinen sie in der Frühförderung noch nicht richtig angekommen zu sein. Die Gründe für die geringe Beteiligung der Väter sind vielfältig.
Die Anbieter von Frühförderleistungen verweisen vor allem auf die Tatsache, dass viele Väter zu den Zeiten, zu denen die Frühförderung stattfindet, arbeiten müssen. Gleichzeitig fehlt es bei den Einrichtungen aber oft an Bereitschaft und auch Möglichkeit, Frühförderung zu variableren Zeiten anzubieten. Oft ist in den Familien noch ein traditionelles Rollenverständnis anzutreffen, mit Vätern als Ernährern und Müttern als Versorgerinnen. Dieses Rollenverständnis beinhaltet, dass die Kindererziehung nicht als Aufgabe der Väter wahrgenommen wird. Natürlich gibt es auch Familien, bei denen aus verschiedenen anderen Gründen die Beteiligung an der Frühförderung erschwert sein kann.
Die Väter selbst bevorzugen Aktivitäten, an denen sie gemeinsam mit ihren Frauen oder Partnerinnen teilnehmen können. Ausgewiesene „Väterangebote“, wie Info-Treffs für Männer oder Männer-Selbsthilfegruppen, scheinen weniger beliebt zu sein. Väter wollen vor allem lernen, wie sie ihrem Kind in seiner Entwicklung helfen können. Sie betonen, dass sie sich mehr beteiligen würden, wenn die Frühförderung auch manchmal am Abend oder am Wochenende stattfinden könnte. Außerdem merken Väter an, dass es ihre Teilnahme erleichtern würde, wenn sie explizit von den Anbietern dazu eingeladen würden und wenn die Fachleute der Frühförderung den Vätern signalisierten, dass sie deren Beitrag zur kindlichen Entwicklung wertschätzen.
Quelle und weitere Informationen: Hintermair, M. & Sarimski, K. (2018). Erfahrungen von Vätern mit jungen hörgeschädigten Kindern. Hörgeschädigtenpädagogik, 72, 134-149.
5 Gründe, Väter in die Frühförderung einzubeziehen!
- Väter spielen grundsätzlich eine wichtige Rolle für die Entwicklung ihrer Kinder und tragen dazu in spezifischer Weise bei.
- Väter von Kindern mit einer Behinderung sind emotional ebenso betroffen wie die Mütter. Deshalb brauchen auch sie Unterstützung, um mit dieser Situation zurechtzukommen.
- Väter gehen mit der Behinderung ihres Kindes häufig anders um als Mütter. Diese Unterschiedlichkeit kann man in der pädagogischen Begleitung von Familien als Stärke nutzen. Wenn Väter sich beispielsweise als Spezialisten für Hörtechnik erweisen, warum diese Ressource nicht nutzen? Väter sollten ermutigt werden, ihre eigenen spezifischen Stärken zu entdecken und einzubringen!
- Väter, die in die pädagogische Arbeit aktiv mit eingebunden sind, zeigen ein höheres Maß an Selbstwirksamkeit: Sie fühlen sich kompetenter im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes. Damit können sie sich auch besser an der Förderung ihres Kindes beteiligen.
- Bringen sich Väter stärker in die Erziehung ihres Kindes ein, verringert das den Stress der Mütter. Die Einbindung beider Elternteile in die Förderung kann daher einen Beitrag zum psychosozialen Wohlbefinden der Familie leisten.
Die familienzentrierte Perspektive in der Frühförderung verlangt nach Arrangements, die auch den Vätern eine Teilnahme ermöglichen. Möglichst viele der Sitzungen sollten mit der ganzen Familie erfolgen!
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