Im südschwedischen Småland in Orten wie Lönneberga oder Bullerbü ist die Welt noch in Ordnung: Streicheleinheiten für die Seele, wie es auch die Idyllen aus den Filmfabriken in Mumbai sind oder die Verfilmungen von Werken einer Rosamunde Pilcher – nur stehen im Mittelpunkt der Geschichten von Astrid Lindgren immer Kinder wie der kleine Emil, alias Michel.
Eva Kohl
Der fünfjährige Emil Svensson lebt mit seinen Eltern, seiner kleinen Schwester Ida, der Magd Lina und dem Knecht Alfred auf dem Katthult-Hof im südschwedischen Lönneberga. Tagein, tagaus trägt er seine „Müsse“ auf dem Kopf, eine blaue Mütze mit schwarzem Schirm. Der Blondschopf mit den blauen Augen und den roten Backen ist wild, eigensinnig und hilfsbereit: Als Frau Petrell damals in Ohnmacht fiel – woran Emil nicht ganz unschuldig war – ging es ihm viel zu langsam, bis die Erwachsenen endlich kaltes Wasser für die Arme brachten. „Rasch nahm er die Schüssel mit der Blaubeersuppe und schüttete alles, was noch übrig war, Frau Petrell mitten ins Gesicht.“ Er erkannte: „Da sieht man, wie gut es ist, viel Blaubeersuppe zu kochen, dann reicht sie auch bei Unglücksfällen.“
Am gleichen Tag kletterte Emil auch auf die Spitze einer Fahnenstange, um seinen Vater wiederzufinden, der im Getümmel des bäuerlichen Jahrmarkts in der Kleinstadt Vimmerby verloren gegangen war; er zerbrach eine Glasscheibe, ritt auf einem Pferd in das Wohnzimmer des Bürgermeisters und entzündete ungewollt ein Feuerwerk. Eigentlich will Emil nur die Probleme lösen, auf die er im Laufe eines Tages so stößt, aber manchmal kann das auch ganz schön misslingen…
Humorvolle Melancholie
Wenn Alma Svensson die Streiche ihres Sohnes Emil in ihren blauen Schreibheften festhielt, so führte ihr dabei Autorin Astrid Lindgren die Feder. Die in Stockholm lebende Autorin Lindgren beschrieb in den Geschichten Land und Leute jener Gegend, in der sie 1907 als Astrid Anna Emilia Ericsson das Licht der Welt erblickt hatte und mit Bruder Gunnar und den Schwester Stina und Ingegerd auf einem Bauernhof aufgewachsen war.
Die Journalistin Ericsson wurde mit achtzehn Jahren Mutter eines unehelichen Sohnes: Lars lebte die ersten vier Jahre bei einer Pflegemutter. Lindgren heiratete 1931 Sture Lindgren, der damit Lars´ Stiefvater wurde. 1934 wurde Tochter Karin geboren. Für sie erfand Astrid Lindgren im Winter 1941 die Figur der Pippi Langstrumpf. Niedergeschrieben hat sie die Geschichten erst später: „Doch dann kam dieser Schnee, der die Straßen glitschig wie Schmierseife machte. Ich fiel hin, verstauchte mir den Fuß, musste liegen und hatte nichts zu tun. Was tut man da. Schreibt vielleicht ein Buch. Ich schrieb Pippi Langstrumpf.“ Es dauerte insgesamt vier Jahre, bis Pippi den Weg in die Buchhandlungen fand und letztlich in 70 Sprachen übersetzt wurde.
Lindgren selbst sprach mehrere Sprachen, auch Deutsch, doch fühlte sie sich als „ganz anderer Mensch“, wenn sie „die eigene Sprache nicht brauchen kann“, als „langweilig, mit einem armen Wortschatz“, wie sie ihrer deutschen Brieffreundin Louise Hartung gestand. Zu Beginn des Briefwechsels mit ihr beschreibt Lindgren ihr Leben: „Die meisten meiner Erlebnisse finden im Inneren statt.“ Als ausgeprägter Familienmensch spielte Lindgren gerne mit ihren Kindern und Enkelkindern, pflegte aber auch viele Freundschaften und Brieffreundschaften und genoss ihre zahlreichen Reisen. „Es gibt massenhaft Sachen, die mich mit innerem Entzücken erfüllen. Aber manchmal ist alles mit Asche bedeckt“, wurde sie häufig melancholisch: bei schlechtem Wetter, Krankheit oder auch ohne ersichtlichen Grund. Die mittlerweile vielbeschäftigte Verlagslektorin fand im Schreiben Ausgleich – sie schreibt auch für sich selbst. Doch wie schon Pippi entstanden auch die Erzählungen über den Katthult-Hof und seine Bewohner eher zufällig.
Wie Emil zu Michel wurde
„Emil war zuerst nur ein Name, herausgeschmettert, um ein plärrendes Kind zum Schweigen zu bringen: Rat mal, was der Emil damals angestellt hat!“ Den Schreihals kannte Lindgren. Es war ihr Enkel, der bei ihr zu Gast war. „Wer dieser Emil war, davon hatte ich selbst noch keine Ahnung, aber das kümmerte mich vorerst auch wenig. Und auf einmal bekam der Knirps Leben und fing an, Streiche zu machen.“ Die Geschichten um den Blondschopf auf dem Hof Katthult bei Lönneberga erscheinen 1963 unter dem Namen Emil i Lönneberga. Bei der Übersetzung ins Deutsche befürchtete der Verlag Verwechslungen mit dem – im deutschsprachigen Bereich populären – Kinderdetektiv Emil aus der Feder Erich Kästners, und machte daher aus Emil Svensson kurzerhand Michel Svensson.
Mit ihren Büchern über Kalle Blomquist, die Kinder aus Bullerbü, Lotta und die Kinder aus der Krachmacherstraße, Madita, Ronja, die Räubertochter, die Brüder Löwenherz und anderen errang die Kinder- und Jugendbuchautorin zahlreiche Auszeichnungen – zumindest fünf Auszeichnungen allein für Die Brüder Löwenherz, die zuvor sogar im schwedischen Parlament zu Debatten geführt hatten, weil man in einer Passage eine Verherrlichung des Suizids sah: Tatsächlich trat Lindgren nicht nur für Kinder- und Tierrechte ein, sondern auch für ein selbstbestimmtes Lebensende.
„Ich bin ein alter Mensch, taub und halbblind und fast verrückt“, reagiert Astrid Lindgren mit dem ihr eigenen Humor auf die Wahl zur Schwedin des Jahres kurz vor ihrem 90. Geburtstag: „Verbreitet das bloß nicht, sonst glauben sie noch, ganz Schweden ist so …“ Sie starb im Alter von 94 Jahren an den Folgen einer Virusinfektion in Stockholm. Begraben wurde die international bekannte Autorin in Vimmerby in Småland. Ein deutscher und drei schwedische Literaturpreise wurden nach Astrid Lindgren benannt.
Gegen den Mainstream anschreiben
„Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit“, erinnerte sich Lindgren an ihre eigene Jugend. Auch ihr Protagonist Emil, alias Michel, bewegt sich in einem solchen Umfeld aus Geborgenheit und Freiheit, das Neugierde und Phantasie zulassen. Er kassiert für seine Missgeschicke stets Tadel und wird auch manchmal in den Schuppen gesperrt, um dort über sein Handeln nachzudenken. Doch selbst als Michel die teure Suppenschüssel kaputt macht und zwei Arztbesuche im fernen Mariannelund verursacht, lässt sich Vater Anton zu Rosinenbrötchen überreden. Lindgrens Elternfiguren standen damit in krassem Kontrast zur ‚schwarzen Pädagogik‘ der Drohungen und Strafen, in der die damalige Elterngeneration überwiegend aufgewachsen war, doch die zweifache Mutter war überzeugt: „Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“
Lindgren band nicht nur eigene Erinnerungen in die Geschichten über Michel ein, sondern auch die Erinnerungen ihres Vaters Samuel August, der selbst zum Fan des erfundenen Lausers wurde. Lindgren erzählte: „Wenn er von Emil hörte, der barfuß durch Lönneberga läuft, wurde Samuel August ein ähnlicher kleiner Junge aus einer Nachbargemeinde in Småland, obwohl er selber als Kind bestimmt nie ganz so viele Streiche gemacht hat. Aber Gatter hat er geöffnet, um Zwei-Öre-Münzen und Fünf-Öre-Münzen zu bekommen, genau wie Emil, und Krebse hat er gefangen, genau wie Emil. Auf Jahrmärkten, Versteigerungen und bei Glaubensbefragungen war er genauso heimisch wie Emil.“
Auch wenn die heutigen Durchschnittseltern in Österreich noch nie Krebse gefangen haben, finden viele in den Erzählungen ihre eigenen Sichtweisen aus der Kindheit wieder. So bieten Astrid Lindgrens Bücher nicht nur idealen Lesestoff für Taferlklassler, sie tun auch der elterlichen Seele beim Vorlesen gut und können obendrein auch in einer pädagogisch aufgeklärten Welt immer noch die Einstellung der Autorin vermitteln: „Ich glaube, dass Erziehung Liebe zum Ziel haben muss.“
Buch: Michel in der Suppenschüssel, übersetzt von Karl Kurt Peters, für Leser ab 8 Jahren, ISBN-13: 978-3-7891-1925-5
Hörbuch: gelesen von Manfred Steffen, ISBN-13: 978-3-8373-0214-1
Doppel-CD ungekürzt und deutlich gelesen von Ursula Illert: ISBN-13: 978-3-8373-0959-1