Friedemann Derschmidt und Erinnerungsgeschichten
Erlebtes in Worte zu fassen, bedeutet auch, dieses Erleben aus eigener Sicht zu interpretieren. Filmemacher Friedemann Derschmidt macht das anhand extremer Beispiele deutlich, sieht aber Relevanz für alle Menschen.
„Mein Leben ähnelte einer Wanduhr, deren Pendel an zwei Extreme schlug. Auf der einen Seite befand sich das vorläufige, falsche und aufgezwungene Leben, auf der anderen das echte, tief verwurzelte, doch verborgene“, schreibt Salomon „Sally“ Perel alias Josef Perjell in seiner Autobiografie. 1925 in Norddeutschland in einer jüdischen Familie geboren, flüchtete der kleine Sally mit der Familie vor den Nationalsozialisten erst nach Lodz in Polen, von wo er gemeinsam mit seinem älteren Bruder weiter in Richtung Russland geschickt wurde. „Du sollst leben“, hofften die Eltern, ihre beiden Söhne so vor der Verfolgung der Nazis zu retten. Als die deutsche Armee Sally dann doch einholte, gab der Jugendliche sich als verwaister Volksdeutscher aus.
So überlebte der Jude Sally das Kriegsende letztlich als Schüler einer NS-Eliteschule, als Jupp, wie ihn die Kameraden bei der Hitlerjugend riefen. „Sally hat sich vor Jupp gefürchtet. Er war sein Todfeind! Um zu überleben, musste Sally sein eigener Feind werden.“ Er litt unter der Doppelidentität. „Nach 1945 wollte Josef nicht mehr leben.“ Salomon Perel beschreibt damit gleichzeitig, was Jupp und was auch Sally betraf. Denn: „Jupp, der Nazi, hat mich nie mehr verlassen.“ Er ist Teil von Sallys Vergangenheit, bleibender Teil seines Ichs.
40 Jahre nach Kriegsende hatte Perel sein Schweigen über das Doppelleben seiner Teenagerzeit gebrochen und seine autobiografischen Erinnerungen publiziert. 2017 formulierte er in einem Interview: „Es ist nicht gut, für etwas zu sterben. Es ist gut, für etwas zu leben.“ Seit 1990 reist er regelmäßig nach Deutschland, wo er von seinem außergewöhnlichen Schicksal erzählt: Auf Deutsch, in der Sprache jener, die sein Leben verfolgten und sein Überleben retteten. Welche Worte findet er auf Hebräisch darüber?
4 x Sally – ein Synoptisches Portrait
Der österreichische Filmemacher Friedemann Derschmidt beschäftigt sich mit Erinnerungen: Mit jenen Geschichtserzählungen zum Beispiel, mit denen Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus aufwachsen – Narrative, welche das Selbstverständnis der Familien und darüber hinaus das kollektive Gedächtnis ganzer Gesellschaften prägen. „Sinnzusammenhänge werden in verschiedenen Gruppen anders erinnert.“ In zahlreichen künstlerischen Projekten bearbeitet Derschmidt diese Thematik, so auch beim Kunstprojekt 4 x Sally, bei dem ihn sein israelischer Kollege Shimon Lev sprachlich unterstützte.
„Das besondere bei Sally ist, dass die beiden Narrative“, die beiden Erzählweisen, „in einer Person vereint sind“, so Lev in einem Interview mit dem Radiosender TLV1. Derschmidt verarbeitete die unterschiedlichen Erzählweisen in einer Videoinstallation mehrerer Interviews mit Sally Perel: eine Synoptik – eine zusammenfassende und vergleichende Gegenüberstellung. Der Sprachwechsel zwischen Deutsch und Hebräisch diente dabei als Werkzeug, um die Sichtweise Salomons und Josefs zu differenzieren.
Derschmidt interessierte aber auch die unterschiedliche Erzählweise des deutschsprachigen Salomon und des Israeli Shlomo, des Deutsch und des Hebräisch sprechenden Josef. „Der Rahmen der Geschichte ist der gleiche. Aber in jeder Sprache, aus jedem Blickwinkel, betont er unterschiedliche Aspekte“, schildert Lev. Salomon Perel hat jeden dieser Aspekte tatsächlich gelebt. „Man kann die Geschichte nicht verstehen, wenn man nur eine der Erzählungen hört“, so Lev. So gut man unterschiedliche Aspekte des anderen auch kennt, bleibt aus Sicht Derschmidts echtes Hineinversetzen in das Leben und Erleben aber immer begrenzt: „Weil man aus der eigenen Haut nicht herauskommt.“
Sprache verbindet und grenzt ab
Die Situation des jungen Sally alias Josef sei ein extremes Beispiel für das, was jeder Mensch in abgeschwächter Form erlebe, so Derschmidt. Jeder Mensch füllt in seinem Leben verschiedene Funktionen und Rollen aus: Mutter und Tochter, Freund und Chef, Nachbar und Bruder. „Ich glaube aber, das geht weit über eine Rolle hinaus. Du bist auch jemand anderer“, so der Künstler. Auch bei weniger kontroversen Lebenswelten als jenen des Sally alias Jupp: Unterschiedliche Rollen würden oft auch unterschiedlichen Sprachen zugeordnet – wie beim österreichischen Studenten, der als Studienkollege und Freund akzentfreies Deutsch spricht, als Sohn und Bruder in seiner Migrationsfamilie aber Bosnisch.
„Sprache differenziert sich dabei weiter“, weiter ins Detail als nur zwischen verschiedenen Landessprachen. Derschmidt verweist auf prägnante Aussprachemerkmale, Idiome, verschiedener gesellschaftlicher Gruppen; oder auf Wortkreationen der sogenannten „Jugendsprache“. Über Sprache erfolge ein Wiedererkennen des Eigenen, das Sicherheit vermittelt, und zugleich ein Abgrenzen gegen anderes, Fremdes. Der Künstler gibt zu bedenken: „Ich muss aber diesen sicheren Bereich verlassen, um etwas dazulernen zu können.“ Lernen, auch über das eigene Werden.
Sprache – mehr als Vokabular und Grammatik
Auch der Künstler und KZ-Überlebende Yehuda Bacon ist Protagonist eines der Synoptischen Portraits von Friedemann Derschmidt: In einer deutschsprachigen Familie in Tschechien geboren, lebt Bacon heute mit seiner US-amerikanischen Frau in Israel. Ein Leben in vier Sprachen. In dreien davon – Deutsch, Tschechisch und Hebräisch – erzählt er seine Geschichte jeweils zwei Gesprächspartnern, die sich in einem wesentlichen Merkmal unterscheiden: Alter, Geschlecht oder familiärer Bezug zum Holocaust. „Ich wollte wissen, wie weit die Zuhörer die Geschichte mit dem Erzähler mit entwickeln“, erklärt Derschmidt. Interessant sei für ihn, dass der Erzähler nicht nur die Erzählperspektive anpasse, sondern auch Wortwahl und Körpersprache: Einzelnen Gesprächspartnern gegenüber ersetze er sogar konkrete Worte durch Gesten.
Für Derschmidt ist Sprache mit der jeweiligen Persönlichkeit oft untrennbar verbunden und lässt sich nicht einfach „übersetzen“. Sprache geht dabei weit über die grammatikalisch angeordnete Abfolge von Begriffen hinaus, beinhaltet Gestik und Sprachmelodie, hängt selbst vom Kontext noch ab.
Zurzeit zeigt die Niederösterreichische Landesgalerie im Rahmen der Ausstellung Spuren und Masken der Flucht das Synoptisches Portrait von Yehuda Bacon. Die Installation 4 x Sally wurde in Österreich 2016 im Jüdischen Museum in Wien gezeigt und wurde mittlerweile mit Interviews auf Polnisch und Russisch ergänzt.
Weiter hören, lesen, staunen:
Ausstellung Spuren und Masken der Flucht – noch bis 26. September 2021 in der Landesgalerie Niederösterreich, Museumsplatz 1, 3500 Krems an der Donau. www.lgnoe.at
Synoptisches Portrait von Yehuda Bacon sowie die zugrundeliegenden Video-Interviews auch auf www.derschmidt.com/de/category/synoptic-portrait/
„Ich war Hitlerjunge Salomon“ von Sally Perel. Gebundenes Buch bei Nicolai Publishing & Intelligence GmbH, 2009, ISBN 978-3-87584-424-5; Taschenbuch bei Heyne, 1993, ISBN 978-3-453-06512-3; Kindle mit Text-to-Speech Heyne-Verlag ASIN B091JGMP27; gekürztes Hörbuch gelesen von Sally Perel selbst, Lübbe Audio, ASIN B002TVS75S
“I´m a Jewish Man in Love with a Hitler Youth”, Interview mit Salomon Perel, Friedemann Derschmidt und Shimon Lev auf https://tlv1.fm
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