Zwischen Stille und Klang – das muss kein Gegensatz sein!

Manuela und Johann Lunzer sind beide im Gehörlosenverein und -verband engagiert – und beide sind froh über ihre Cochlea-Implantate. Ihr Eintritt in die Welt des Hörens war mit Turbulenzen verbunden, doch nun genießen sie das Leben in „zwei Welten“. Ihre Geschichte zeigt: Gehörlos und Cochlea-Implantat schließen sich nicht aus – sie können sich sogar bereichern. 

Eva Kohl 

St. Pölten 2004. Bei der Weihnachtsfeier des St. Pöltner Gehörlosenvereins herrscht gelöste Stimmung. Obfrau Ing. Manuela Lunzer eröffnet die Feier. Nach den ersten Begrüßungsworten erklärt sie: „Mein Mann und ich, wir haben uns beide ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen.“ Betretenes Schweigen im Saal – gehörlos und Cochlea-Implantat galt damals als Tabubruch. 

Fester Teil der Gehörlosen-Community 

Manuela Lunzer ist seit jeher in der Gehörlosengemeinschaft fest verankert. Ihr Vater war nach einer Gehirnhautentzündung als Kleinkind ertaubt, ihre Mutter im Säuglingsalter nach einer schweren Mittelohrentzündung. Implantate gab es damals noch lange nicht. So waren beide Mitglieder der Gehörlosen-Community, als Tochter Manuela 1965 das Licht der Welt erblickte.  

Das Neugeborene war schwach. Am Tag der Geburt erhielt es neben einer Bluttransfusion auch die Nottaufe. Den schwierigen Start ins Leben überstand das Mädchen gut, doch da sie nicht altersgemäß auf Sprache reagierte, wurde erst ein sogenanntes Rett-Syndrom befürchtet: eine Entwicklungsstörung, die sich typischerweise auch auf die Sprache auswirkt. Genauere Untersuchungen belegten dann: Eine herkömmliche Innenohrschwerhörigkeit war die Ursache. Noch vor dem Schuleintritt bekam Manuela Lunzer ihre ersten Hörgeräte. 

Die Lunzers sind in beiden Welten daheim – in der der Gehörlosen, mit ihren CIs aber auch in der hörenden. ©privat

Zweisprachig aufgewachsen: Gebärdensprache und Dialekt 

„Ich hab´ immer beide Welten gekannt“, erklärt Manuela Lunzer. Familiensprache bei ihren Eltern war die Österreichische Gebärdensprache, kurz: ÖGS. „Schon als kleines Kind nahm mich Mama mit in den Gehörlosenverein: Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt!“ Damals hat sie mit der Mutter auf dem Bauernhof der Großeltern gelebt, wo sie von ihnen, den anderen Familienmitgliedern und Bediensteten als erste Lautsprache den steirischen Dialekt erlernte. „In der Nähe habe ich ja gehört. Aber man hat gemerkt, dass ich nicht gut reagiere. Und die tiefen Töne habe ich gar nicht gehört.“ Die Hörgeräte erleichterten das Verstehen der Lautsprache und eine Sprachheillehrerin half dem schwerhörigen Mädchen, seine Aussprache zu verbessern. 

„Mama kann alles, dachte ich immer. Aber in der Volksschule habe ich bemerkt, dass Mama die Fälle der deutschen Sprache nicht gut beherrscht.“ Die über 300 Gebärdensprachen weltweit haben jeweils eine eigene, komplexe Grammatik – wie Lautsprachen auch. Die Grammatik unserer deutschen Lautsprache kennt vier Fälle. Zum Vergleich: Die Spanier verwenden Bezugswörter statt Fallendungen und auch für Englisch müssen wir kaum Fallbeugungen lernen; dafür gibt es zum Beispiel in Latein sechs oder in Polnisch sieben Fälle, im Ungarischen zählt man sogar bis zu 40 Fälle! 

Die Österreichische Gebärdensprache ÖGS kommt ohne Artikel aus und kennt daher keine Fallbeugung des Artikels und auch keine Beugung für die Gebärden der Für- und Hauptwörter. Entsprechend waren die ungewohnten Fallbeugungen der deutschen Schriftsprache eine Herausforderung für Manuela Lunzers Mutter. 

„Meine Eltern hatten Angst, dass ich die Lautsprache verlerne“

Ganz anders ist Johann Lunzer in einer ausschließlich audio-verbal orientierten Umgebung aufgewachsen. Und das, obwohl er einen Monat vor seinem sechsten Geburtstag in Folge einer bakteriellen Meningitis sein Hörvermögen verlor. „Meine Eltern hatten Angst, dass ich in der Gehörlosenschule die Lautsprache verlernen würde“, erklärt er, warum er trotzdem die ersten drei Schuljahre an der örtlichen Regelschule absolvierte. Erst ab der vierten Klasse besuchte der Waldviertler die Schwerhörigenschule in Wien – damals noch in der Waltergasse. „Aber ich habe da wie dort nichts verstanden: Ich habe nicht genug gehört und konnte auch nicht vom Mund ablesen.“ 

Erst in der Berufsausbildung kam der damals 17-Jährige mit Gehörlosen in Kontakt. Über zwei gehörlose Kollegen lernte er die Gebärdensprache kennen: „Ich habe kein Talent für Gebärdensprache, aber ich kann mich zumindest unterhalten.“ 

Beim VOX Schwerhörigenzentrum Wien riet ein älteres Ehepaar dem jungen Mann eines Tages: „Bei der Gehörlosenmesse ist immer eine junge Frau, die zu dir passen würde.“ Offensichtlich hatte das Paar damit recht: Seit 1992 sind Manuela und Johann Lunzer ein Paar. 

Ein Paar zwischen zwei Welten 

Für ein Cochlea-Implantat, kurz: CI, hatte sich Johann Lunzer erstmals 1986 interessiert. Doch damals standen Implantate nur für beidseits vollständig ertaubte Erwachsene zur Verfügung. Johann Lunzer hatte aber noch Hörreste und musste sich mit logopädisch angeleiteten Sprachübungen begnügen. Dann kamen die Hochzeit und die Kinder – beide sind normalhörend: „Wenn wir unsere Hörsysteme nicht oben haben, dann gebärden wir. Sonst sprechen wir immer in Lautsprache.“ Als ihm Jahre später ein Kliniker in St. Pölten auf Cochlea-Implantate aufmerksam machte, war er sich sicher: „Ich brauch´ das nicht!“  

Im Jahr 2004 änderte sich für das Ehepaar Lunzer plötzlich alles. „Ich muss als Referentin im technischen Bereich häufig telefonieren und bin auch bei Besprechungen dabei“, erklärt Manuela Lunzer. „Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob mein Hörgerät nicht richtig verstärkt oder meine Ohren ständig verlegt sind.“ Ein Hörtest ergab, dass die Familienmutter einen Hörsturz erlitten hatte. Nun kam für sie ein CI ins Gespräch. Nun standen sie standen vor einer Entscheidung: Gehörlos und Cochlea-Implantat – geht das? 

Zweifel in der Gehörlosen-Community 

„Das CI war in Gehörlosenkreisen bekannt, aber die Gehörlosen waren damals nicht begeistert“, gesteht die CI-Nutzerin im Rückblick. Schon in den Anfängen der Cochlea-Implantation erzielten spätertaubte Erwachsene mit den Implantaten gute Hörerfolge. Auch ein früherer Präsident des Österreichischen Gehörlosenbundes entschied sich daher für ein CI, doch er war schon von Kindheit an taub. Wie wichtig das Hörvermögen der ersten Lebensjahre für ein späteres Verstehen von Lautsprache ist, war damals noch nicht bekannt: Die Implantation wurde zum Misserfolg. So erging es auch anderen taub geborenen Erwachsenen. Hinzu kam das historisch belastete Verhältnis zwischen Gehörlosengemeinschaft und hörender Gesellschaft. Das alles führte damals zur Ablehnung des CI in der Gehörlosengemeinschaft.  

Manuela Lunzer ließ sich die Möglichkeit trotzdem durch den Kopf gehen: „Wenn du immer Musik hören und telefonieren konntest, dann kannst du darauf nicht so einfach verzichten.“ 

Erfahrungsaustausch mit Betroffenen

Die Lebensqualität hat sich mit der CI-Versorgung für Manuela und Johann Lunzer wesentlich verbessert. ©privat

„Ich habe gesehen, dass ich in meinem Beruf so nicht mehr weiterarbeiten kann, und die Kinder habe ich auch nicht mehr gehört“, erzählt Manuela Lunzer. Sie schwankte zwischen dieser bedrückenden Erfahrung und der kritischen Einstellung der Gehörlosen um sie herum.  

Dr. Alexander Nahler, damals CI-Chirurg an der Klinik in St. Pölten, brachte sie in Kontakt mit der niederösterreichischen CIA-Gruppe, alle voran Trude Moser. „Die Betroffenen haben dort ehrlich gesagt, dass sie oft lange geübt haben, bis sie mit CI wieder gut verstanden haben“, erinnert sich die CI-Nutzerin an ihren Besuch beim CIA-Treffen im Gasthaus Graf. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen: „Die Entscheidung ist bei mir dann relativ rasch gefallen.“ 

Während seine Gattin die Voruntersuchungen durchlief, begann auch Johann Lunzer sich wieder für das Implantat zu interessieren. „Ich dachte: Ich hör praktisch eh nichts mehr, also kann ich ja nichts verlieren.“ So kam es, dass der Familienvater am 23. November 2004 implantiert wurde, noch neun Tage vor seiner Frau – so war auch immer ein Elternteil zuhause bei den Kindern, während der andere im Spital lag. Die beiden Operationen, die Weihnachtsvorbereitungen mit einem damals 9-jährigen Sohn und einer 11-jährigen Tochter, und die Vorbereitung der Weihnachtsfeier für den Gehörlosenverein in St. Pölten – es war ein besonders turbulenter Advent damals.  

Vereint: Gehörlos und Cochlea-Implantat 

Schon vor der Implantation hatte die Niederösterreicherin ihre Mutter in die Implantationspläne eingeweiht: „Als sie hörte, dass ich mich implantieren lassen wollte, ist sie in Tränen ausgebrochen.“ Die selbst gehörlose Frau fürchtete, ihre Tochter würde sich mit neu gewonnenem Hörvermögen von der Gehörlosengemeinschaft distanzieren; sie als gehörlose Mutter würde damit die Tochter und deren Familie verlieren. Kritik hagelte es auch aus der Gehörlosengemeinschaft: „Kein Hirn, kein Selbstbewusstsein, keine Identität“, so lauteten einige der Vorwürfe. 

Doch das Paar war entschlossen, auch mit CIs ihrem Gehörlosenverein und Gehörlosenverband treu zu bleiben, ohne deswegen ihre Cochlea-Implantate zu verleugnen. Denn: Gehörlos und Cochlea-Implantat war für sie keine Entscheidung gegen die Gebärdensprache, sondern für mehr Lebensqualität.Manuela Lunzer empfahl den Mitgliedern bei ihrer Weihnachtsansprache vorsorglich, sich einfach bis zur nächsten Vorstandswahl im folgenden Jahr zu überlegen, ob sie angesichts ihrer Implantation jemand anders in ihre bisherige Position wählen möchten. Doch dazu kam es nicht.

Das Ehepaar Lunzer bei einem Besuch bei MED-EL in Innsbruck ©privat

Alltag mit CI: neue Geräusche, alte Wurzeln 

Seither sind gut 20 Jahre vergangen, die Eheleute haben mittlerweile beide auch auf der zweiten Seite ein CI. Für ihr Sprachverstehen mit Implantat haben beide fleißig geübt, besonders Johann Lunzer: „Ich hab‘ ja viel länger nichts gehört als Manuela.“ Die erklärt, anfangs sei auch nicht jedes Geräusch angenehm gewesen: „Das Knirschen im Schnee oder das Öffnen eines Papiersackerls zum Beispiel – das habe ich mit den Hörgeräten ja nicht gehört.“ So unbekannte Geräusche empfand sie mit dem CI anfangs als unangenehm. Dass er es geschafft hatte, das wusste Johann Lunzer: „als ich im Büro mit CI besser verstanden habe als zuvor mit Hörgeräten.“ Seine Gattin ergänzt: „Ich habe schon als Kind das Neujahrskonzert so gerne gehört. Mit den CIs ist das jetzt noch viel schöner!“ 

„Die Gebärdensprache ist ja meine Muttersprache geblieben, nur die Lebensqualität und meine berufliche Situation haben sich mit CI wesentlich verbessert!“ Manuela Lunzer 

Identität bewahren 

„Ob manche Bekannte jetzt noch hinter unserem Rücken reden, das wissen wir nicht. Extreme Verfechter der Gebärdensprache gibt es natürlich, die das CI ablehnen.“ Aber Manuela Lunzers mittlerweile verstorbene Mutter war bald beruhigt, dass die Implantate Wesen und Persönlichkeit ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns nicht verändert haben. „Die Gebärdensprache ist ja meine Muttersprache geblieben“, erklärt Manuela Lunzer. „Nur die Lebensqualität und meine berufliche Situation haben sich mit CI wesentlich verbessert!“ Gehörlos und Cochlea-Implantat – für sie kein Widerspruch, sondern ein Gewinn. 

Die Eheleute sind jetzt Mitglieder beim CI-Verein CIA und zugleich weiterhin aktiv im St. Pöltner Gehörlosenverein und im Gehörlosenverband NÖ: Manuela Lunzer als Obfrau des St. Pöltner Vereins – seit 2002 ohne Unterbrechung – und als Generalsekretärin des Landesverbands, Gatte Johann in beiden als Kassier. „In unserem Freundeskreis haben sich mittlerweile auch einige Gehörlose operieren lassen.“ Denn gehörlos und CI muss kein Widerspruch sein! 

Wer entdeckt Manuela und Johann Lunzer bei der CIA Weihnachtsfeier 2024? ©privat

Logo Leben mit hoerverlust.at

Leben mit hoerverlust.at

Alles auf einen Klick! hoerverlust.at bietet Betroffenen und Angehörigen umfassende Informationen und Kontaktmöglichkeiten zu allen Bereichen, die Sie auf dem Weg zum Hören benötigen. Mehr zum informativen Wegbegleiter vom ersten Verdacht bis zur optimalen Versorgung finden Sie hier!

ZENTRUM HÖREN

Beratung, Service & Rehabilitation – für zufriedene Kunden und erfolgreiche Nutzer! Mehr zum umfassenden Angebot und engagierten Team des MED-EL Kundenzentrum finden Sie hier!