Seit über 25 Jahren wird am AKH Wien beim Cochlea-Implantat die Stimulation der gesamten Hörschnecke genützt, um besonders natürliche Klangempfindungen beim Betroffenen zu erzeugen und das gesamte Potential der neuronalen Struktur zu nutzen.
Während halb Österreich sich Freitagmittag auf das anbrechende Wochenende vorbereitet, herrscht auf den neonbeleuchteten Gängen der Wiener Universitätsklinik noch reges Treiben. Freitag ist hier ein Arbeitstag wie jeder andere. Univ. Prof. Gstöttner, Leiter der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, empfängt die gehört.gelesen im weißen Arbeitsmantel in seinem Büro im Roten Bettenturm. Gstöttner hat als CI-erfahrener Kliniker im Lauf der Jahre viele Untersuchungen zur Hörimplantation durchgeführt, tiefe Insertion war eine davon. „Das war die allererste Arbeit dazu!“, sichtbar stolz breitet er einige Papiere auf dem Glastisch aus.
Es war im Jänner 1994, als MED-EL sein erstes volldigitales Cochlea-Implantat-System Combi 40 vorstellte. Das bot neben der damals revolutionären CIS-Strategie auch eine neue, atraumatische Elektrode. Die Wiener Universitätsklinik AKH testete die Möglichkeiten dieses neuen Implantats im Rahmen verschiedener Studien. Dabei untersuchten die Chirurgen auch, wie tief die aktive Elektrode in die Windungen der Hörschnecke eingeführt werden kann.
Revolutionäre Erfahrung
„Zu Beginn der 1990er Jahre haben wir in den meisten Fällen ja noch extracochleäre Elektroden verwendet.“ Diese Elektroden wurden nicht in die Hörschnecke eingeführt, sondern im Mittelohr möglichst nahe dem Zugang zum Innenohr positioniert. „Wenn wir intracochleär – in die Schnecke hinein – inseriert haben, dann immer nur etwa fünfzehn Millimeter. Damit waren ein oder zwei Kontakte intracochleär.“
Das Combi 40 bot erstmals eine weiche und biegsame Elektrode. Auf einer Länge von knapp 21 Millimeter waren acht Kontaktpaare angeordnet. „Wir haben die dann erst nur 20 bis 25 Millimeter eingeführt.“ Bei der Implantation schiebt der Chirurg die Elektrode so weit in die Hörschnecke, bis er einen leichten Widerstand spürt. „Bald haben wir gemerkt: Wenn die Voraussetzungen stimmen und wenn wir die richtige Operationstechnik verwenden, haben wir mit dieser Elektrode erstmals die Möglichkeit, bis zu 30 Millimeter zu inserieren. Das war damals wirklich eine Sensation!“
„Dort wo man die Cochleostomie macht, wo die Hörschnecke geöffnet wird, wird durch das Bohren auch Struktur zerstört. Deswegen sind dort weniger neurale Elemente vorhanden“, erklärt der Professor. Das lasse sich anhand von Messungen, beim sogenannten Stapediusreflex, auch zeigen. Die CI-Gruppe an der Wiener Universitätsklinik überlegte daher, dass eine tiefere Insertion von etwa 30 Millimeter sinnvoll wäre, um die Elektrodenkontakte in der mittleren Windung der Hörschnecke oder sogar in deren Spitze zu positionieren. Aus bereits bestehenden Studien wusste man, dass über eine solche tiefere Insertion die überlebenden Nervenstrukturen und auch die natürliche Tonhöhenanordnung der Cochlea besser erreichbar wären. „Natürlich haben wir dann zunächst die kurzen Elektroden tiefer eingeführt, um sie besser zu den neuralen Strukturen zu bekommen.“
Internationale Aufmerksamkeit
Um die tiefe Insertion zu üben, wurden im Labor Untersuchungen am toten Knochen, dem sogenannten Felsenbein, durchgeführt. Das Wiener CI-Team hielt dann weltweit Vorträge über diese Studien und über die ersten Erfahrungen am Patienten, sogar in den USA. „Das war damals ein ganz großes Erstaunen in der Fachwelt“, erinnert sich der Professor an die internationalen Fachtagungen: „Das wollte keiner glauben, dass wir die Elektrode zwei oder zweieinhalb Windungen inseriert hatten!“
MED-EL hat auf die Ergebnisse der Wiener Universitätsklinik prompt reagiert und eine noch längere Elektrode entwickelt, auf der die Kontakte auf einer Länge von 30 Millimeter verteilt sind. Die aktuelle Standardelektrode und in weiterer Linie die FlexSoft-Elektrode gehen damit auf die Arbeit des Teams um Gstöttner zurück. Dort nahm man die lange Elektrode als Herausforderung an, wie der Kliniker lachend schildert: „Ich hab´ mir damals gedacht, jetzt macht die Firma uns aber einen Stress. Jetzt müssen wir immer vollen 30 Millimeter inserieren.“ Mit den Weiterentwicklungen der OP-Technik und den wachsenden Erfahrungen der Chirurgen wurde die vollständige Insertion langer Elektroden zunehmend zum Regelfall. „Besonders seit wir auch die Flex-Elektrode zur Verfügung haben, die noch dünner und atraumatischer ist“, ergänzt der Kliniker und resümiert: „Ich glaube, insgesamt ist die tiefe Insertion einer langen Elektrode schon sehr zum Wohl der Patienten.“
Vorteile langer Elektroden
Deckt die aktive Elektrode die gesamte Länge der Hörschnecke ab – der englische Fachausdruck dafür lautet Complete Cochlear Coverage, kurz: CCC – hat das nicht nur physiologische Effekte, sondern auch Auswirkungen auf das Klangempfinden. Die Tonhöhenempfindung ist in der Hörschnecke nämlich so angeordnet, dass hohe Töne am Eingang zur Cochlea gehört werden, während die Spitze der Schnecke für tiefe Frequenzen sensibel ist. Gstöttner erklärt: „Wenn wir den obersten Teil der Schnecke erreichen, können wir auch die tiefen Frequenzen gut stimulieren. Das Hören über das ganze Frequenzband ist einfach das bessere Hören.“ Die aktuellen Audioprozessoren der Implantat-Systeme verarbeiten auch einen gesamten Frequenzbereich und „das passt gut zusammen mit einer langen Elektrode.“
„Bei langen Elektroden hat man auch größere Abstände zwischen den Kontakten. Damit hat man weniger gegenseitige Beeinflussung, weniger Kanalübersprechen, wie man das nennt.“ Gstöttner fasst zusammen: „Die tiefe Insertion hat eigentlich nur Vorteile. Das Hören wird einfach besser, klingt natürlicher und angenehmer, davon bin ich überzeugt“, und nach einer kurzen Nachdenkpause bekräftigt er: „Muss ja so sein!“
Nicht an alles gewöhnen!
In den USA belegte eine Studie im Jahr 2007, dass es über längere Zeit betrachtet bei Nutzern von Cochlea-Implantaten auch bei der Tonhöhenempfindung zu Gewöhnungseffekten kommt. Unter Berufung auf diese Gewöhnungseffekte argumentieren einige Kreise, die Elektrodenlänge sei nicht ausschlaggebend für Klangqualität und Sprachverstehen.
„Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns ist sicher kein Argument gegen eine lange Elektrode“, protestiert Gstöttner entschieden. „Selbstverständlich passt sich der Körper an die Neuroprothese an. Ideal und schnell geht das beim Kind, weil da die Plastizität des Gehirns noch sehr hoch ist“, und weiter: „Beim Erwachsenen kommt es etwa zwei Jahre lang zu einer deutlichen Anpassung an das
Implantat-System. Aber wenn die tiefen Töne auch stimuliert werden und wenn ich besser und schneller stimulieren kann, weil ich bessere Abstände zwischen den Elektroden habe, dann kann das Gehirn sich über längere Zeit auch noch besser anpassen.“
Daher sollten alle vollkommen taube CI-Kandidaten Implantate mit möglichst langen Elektroden angeboten bekommen, weil das zu den besten Ergebnissen führt. Prof. Gstöttner verweist diesbezüglich auch auf die vielen Studienergebnisse verschiedener Kliniken, die das klar belegen. Besonders gilt das für jene CI-Kandidaten, die auf der anderen Seite auf auditivem Weg hören – mit oder ohne Hörgerät. In diesen Fällen das völlig taube Ohr mit einem CI mit tiefer Insertion bis in die Schneckenspitze hinein optimal zu versorgen, sei absolut sinnvoll. „Selbstverständlich mache ich da eine tiefe Insertion und selbstverständlich nutze ich da die gesamte Schnecke. Nur wenn ein substanzielles Tieftongehör da ist, ist es sinnvoll, kürzere Elektroden zu verwenden und den Apex, die Spitze der Schnecke, frei zu halten, damit dort die Haarzellen, die noch funktionieren, besser arbeiten können. Aber das ist die einzige Ausnahme von langen Elektroden: EAS – Elektrisch-akustische Stimulation.“