Direkte Auswirkungen des Coronavirus auf das Hörvermögen werden von Experten kontrovers diskutiert. Indirekt hat die Pandemie Einfluss, da der Lockdown manche dringend anstehenden Höruntersuchungen und Behandlungen verzögerte – mitunter mit gravierenden Folgen.
Eva Kohl
HEARRING ist eine unabhängige, internationale Expertengruppe aus dem Bereich der Hörimplantate zur Förderung der Forschung, Kooperation und Ausbildung. Auch wenn während der Coronakrise keine großen Konferenzen möglich waren, stand und steht die Gruppe im steten fachlichen Austausch und Diskurs, auch über die speziellen Herausforderungen der HNO-Medizin während und unmittelbar nach der Corona-Phase. Zuletzt im Juni diskutierten die Spezialisten, unter ihnen CIA-Präsident Prof. Dr. Wolf-Dieter Baumgartner, über spezielle Herausforderungen der HNO-Medizin während und unmittelbar nach der Krise.
Mögliche Auswirkungen von Sars-Cov-19 auf das Hörvermögen wurden wiederholt berichtet, doch bisher gibt es keine Studiendaten, die gehäufte dauerhafte Höreinbußen durch eine Infektion mit diesem Coronavirus befürchten lassen. Die Pandemie wirkt sich aber auf die generelle HNO-ärztliche und audiologische Versorgung der Bevölkerung aus.
Mangelversorgung durch Corona!
Neben anderen HNO-ärztlichen Herausforderungen durch Sars-Cov-19 berichteten bei einer Umfrage von HEARRING unter 67 Experten aus 42 Städten in 10 Ländern in Europa, Asien, Nord- und Südamerika ein Viertel der Befragten über Verschiebungen von Hörimplantationen, weil die vorangehenden Hörtests verzögert seien. Ein Drittel der Experten klagte sogar über verzögerte Behandlungen hörbeeinträchtigter Babys, weil das Neugeborenen Hörscreening nicht wie gewohnt durchgeführt worden sei.
Dabei gehört die Versorgung tauber Kinder und Erwachsener zu den dringlichen Behandlungen am HNO-Bereich: Nur bei der Nachversorgung der zweiten Seite würde die Mehrzahl der Kliniker eine Verzögerung von mehr als drei Monaten als akzeptabel betrachten. In allen anderen Fällen raten sie dringend zu rascher Diagnose und Versorgung – besonders nach Meningitis, aber auch bei taub geborenen oder plötzlich ertaubten Kindern. Bei ihnen hängt die Sprachentwicklung vom Hörvermögen ab. Da Babys schon vor der Geburt zu hören beginnen, muss bei taub geborenen Kindern auch die letzte Phase vor der Geburt als „taube Zeit“ mitbedacht werden.
In Muttersprache weinen
Schon vor über zehn Jahren präsentierte einer Gruppe von Wissenschaftlern in Würzburg, Leipzig und Paris die Ergebnisse ihrer Forschung, die zeigen, dass schon Neugeborene beim Weinen die Muttersprache imitieren. Das Weinen von je 30 deutschen und französischen Neugeborenen wurde analysiert: Während deutsche Babys mit absteigender Melodie weinen, ist die Melodie bei französischen Babys ansteigend, auch die Varianz der Lautstärke beim Weinen ist sprachtypisch.
Tatsächlich können Ungeborene schon während des letzten Drittels der Schwangerschaft hören, die Melodie von Musik und Sprache wahrnehmen, sowie häufig gehörte Stimmen erkennen und einzelne Sprachmerkmale bestimmten Stimmungen zuordnen. Diese frühen vorgeburtlichen Erfahrungen wirken sich dann auf den Klang des Weinens aus. Daher mag es bei taub oder hochgradig schwerhörig geborenen Kindern nicht wundern, dass ein sehr früher Zeitpunkt einer ersten Cochlea–Implantation messbar bessere Erfolge bei der Hör-Sprech-Entwicklung ermöglicht.
Hören duldet keinen Aufschub
Zahlreiche Studien haben bereits belegt, dass der Zeitpunkt einer Cochlea–Implantation taub geborener Kinder die Erfolge mit dem Implantat relevant beeinflussen. Galten CI-Kinder früher schon als „früh-implantiert“, wenn sie vor Schuleintritt mit Hörimplantat versorgt wurden, so diskutiert man heute über die Unterschiede in der Hör- und Sprachentwicklung, wenn Kinder vor oder nach dem ersten Geburtstag implantiert wurden. Eine Gruppe skandinavischer Wissenschaftler um Eva Karltorp zeigt nun, dass die Cochlea–Implantation auch von Kleinkindern unter neun Monaten zuverlässig und sicher ist und dabei zu einer natürlicheren Sprachentwicklung führt, als das bei später implantierten Kindern der Fall ist.
Das gilt aber nicht nur für Kinder: Auch von ertaubten Erwachsenen weiß man, dass neben anderen Faktoren auch die Länge jener Zeit eine Rolle spielt, in welcher der Betroffene kaum oder gar nicht hören konnte. Je kürzer diese Zeitspanne, desto besser die Hörerfolge mit einem Cochlea–Implantat.
Keine Zeit verlieren!
Die Experten bei HEARRING sind sich mehrheitlich einig: Im Allgemeinen ist gutes Hörvermögen ein dringendes Anliegen. Einzig die Nachversorgung der zweiten Seite mag krisenbedingt einen Aufschub von nicht mehr als wenigen Wochen dulden.
„Die Versorgung auch während der Pandemie für Kliniker und Patienten sicher anzubieten, ist durchaus eine Herausforderung“, das zeigt die Umfrage des HEARRING, doch: „Ende Juni 2020 hatten die meisten befragten Kliniken entsprechende Vorsorge-Routinen implementiert.“ Und: „Diagnose oder Behandlung zu verabsäumen oder zu verzögern, kann die Patienten schädigen.“ Auch eine anhaltende Pandemie sollte für Betroffene also kein Grund sein, anstehende Arzt- oder Kliniktermine zu verschieben – verschobene Termine sollten unverzögert nachgeholt werden.