Was der belgisch-österreichische SCHAUspieler, Drehbuchautor, Kabarettist und Chansonnier Serge Falck zum HÖREN zu sagen hat.
Dem Schauen wird enorme Bedeutung beigemessen. Wenn man jemanden kennenlernt und anderen davon erzählt, so wird man meist gefragt: Wie sieht er oder sie aus? Warum fragt man nicht: Wie hört er oder sie sich an?
Dabei kennen wir die Frustration, wenn Stimme und Aussehen nicht zusammenpassen. Stellen Sie sich vor, Sie lernen jemanden kennen, der Ihnen optisch zusagt und den Sie attraktiv finden. Wenn derjenige dann den Mund aufmacht und etwas sagt wie: „Servas Pupperl, gemma auf an Ziaga“ – dann wird von der anfänglichen Sympathie nicht mehr viel übrigbleiben. Natürlich gilt das auch umgekehrt, wenn wir eine faszinierende Stimme hören und dann, beim Kennenlernen, enttäuscht uns die optische Ergänzung. Trotzdem muss sich Hören immer gegen die Vorherschafft des Sehens verteidigen.
Dabei sagte schon Aristoteles: „Wer sieht, sieht die meisten Unterschiede – und wer hört, sieht noch etwas mehr. Er erweitert seinen Horizont auf alles, was man verstehen und denken kann.“ Wenn wir uns beim Hören konzentrieren, schließen wir oftmals sogar die Augen, damit wir uns die Bilder, die im Kopf entstehen, besser vorstellen können und nicht abgelenkt werden von den Bildern, die wir bereits sehen.
Das Wort verlangt AntWort
Die Vollzugsweise des Hörens ist eine besondere: Ein Wort verlangt eine AntWort. Das erzeugt ein Miteinander oder manchmal ein Gegeneinander – jedenfalls aber eine Art der Kommunikation. Wenn jemand blind ist, kann er trotzdem ungehindert kommunizieren. Wenn jemand taub ist, ist die Kommunikation wesentlich eingeschränkt.
Wenn wir miteinander kommunizieren, lassen uns gewisse Schwingungen in der Stimme fühlen, ob unser Gegenüber offen und ehrlich ist. Diese Unterschiede, diese Zwischentöne zu erkennen, liegt freilich beim Empfänger. Ich kann zum Beispiel aufrecht sitzen und ein Pokerface aufsetzen. Wenn meine Stimme dabei aber nicht klar und entschlossen klingt, wenn mir die Stimme vielleicht sogar versagt oder das Wort im Mund steckenbleibt, dann kann man das zwar nicht sehen, aber hören: Die Stimme klingt dann womöglich nervös, unsicher, verkappt, kleinlaut oder gar tonlos.
Die Stimme kann man nicht faken
Heute gibt es eine ganze Industrie, die damit beschäftigt ist, uns auf Fotos und Selfies schöner und glatter erscheinen zu lassen, jünger oder auch älter, oder sogar ein Grinsen ins Gesicht zu zaubern. Bei der Stimme geht das alles nicht, das hat mir erst kürzlich ein Tontechniker bestätigt. Man kann zwar die Stimmlage etwas korrigieren, wenn ein Ton nicht genau stimmt. Man kann vielleicht auch bei einer Stimme etwas Hall dazu geben oder etwas Volumen. Aber eine unsichere, ängstliche, hastige, atemlose Stimme kann man nicht bestimmender oder vertrauensvoller klingen lassen. Das geht nicht und ich hoffe, dass das noch lange so bleiben wird: So bleibt es uns erspart, dass wir einander auf einer weiteren Ebene etwas vormachen können – faken, wie das heutzutage heißt.
Die Färbung der Stimme bestimmt das Gesagte mehr als das bloße Wort. Statt das bloße Wort zu hören, kann ich es auch lesen. Aber wie viele Missverständnisse und sogar Beziehungskrisen entstehen durch geschriebene Nachrichten, durch die neumodischen Chats. Denn diese Chats transportieren keine Emotionen. Deswegen gibt es eine Fülle von Emoticons oder Emojis, wie man sagt, die man dazu geben kann. Wir erleben eine Inflation an Zwinkersmileys. Das Zwinkersmiley bedeutet ja: „Das war eh nicht so gemeint. ?“ „Du hast zugenommen ?“. Oder: „Wieso bist du so grantig? ?“ Oder: „Ich würde dich gerne wieder mal sehen. ?“
In Schnitzlers Einakter Weihnachtseinkäufe aus dem Anatol-Zyklus sagt Anatol zu Gabriele: „Ein Nein zur rechten Zeit, selbst von den geliebten Lippen, ich konnt´s verwinden. Aber ein Nein, wenn der Ton der Stimme wie gewiss geklungen hat, so ein Nein macht einen zum Narren oder zum Spötter.“ Der Ton bestimmt die Bedeutung – unterstreicht oder widerlegt die Bedeutung des Wortes an sich.
Die Stimme am Theater
Einige Schauspieler verdienen sich oft ein Zubrot mit Radio-Werbespots. Sie haben diese warmen, überzeugenden Stimmen. Ich musste als junger Schauspieler oft ganze Absätze spielen und dann kamen zum Schluss im Spot diese sonoren Stimmen, die nur sagten: „Sparkassen und Erste Bank“ oder „Es ist verdammt hart, der Beste zu sein.“ Die haben mit diesen kurzen Sätzen genauso viel verdient wie ich. Die haben sich damit eine goldene Nase verdient – trotzdem wollte ich nie tauschen: Denn die Unverwechselbarkeit der eigenen Stimme macht doch das eigene Ich aus.
Nicht fehlerlos, aber unverwechselbar
Otto Schenk sagte einmal: „Die, die alles perfekt können, die sind uninteressant.“ Er meinte damit die Alleskönner in der Musical-Branche. Joe Cocker hingehen kann sich weder bewegen, noch wirklich gut singen. Oder auch Herbert Grönemeyer. Frank Sinatra kann zwar gut singen, ist aber kein Opernsänger. Sie alle sind nicht perfekt, aber eben unverwechselbar.
Der Klang der Stimme eines Sängers oder Schauspielers macht ihn unverwechselbar: Das Timbre eines Oskar Werners oder einer Paula Wessely, oder die knautschige Stimme eines Theo Lingens oder Heinz Rühmanns, ganz zu schweigen vom Nuscheln eines Hans Mosers: Stellen Sie sich all diese Schauspieler einmal vor, wenn man sie synchronisiert hätte. Die ganze Wirkung, die Individualität wäre dahin. Das Unverwechselbare.
Im Film Jules et Jim von François Truffaut spricht Oskar Werner in der Originalfassung Französisch mit seiner typischen Stimme und einem leichten Akzent. Die Deutschen haben damals gemeint, man müsse ihn synchronisieren. Man hat dadurch Oskar Werner im wahrsten Sinn des Wortes entseelt.
Nicht nur bei Schauspielern kennen wir die unverwechselbare Stimme – auch andere Persönlichkeiten sind hier zu nennen: berühmte Fußballer etwa, wie der von uns allen geliebte Schneckerl Prohaska. „Die Dore, die was man nicht schießt, begommt man…“ (sic)
Der Ton ist entscheidend
Man kann sich als Schauspieler über einen schlechten Text aufregen. Die Färbung, die ich einem Wort oder einem Satz gebe, übermalt aber den eigentlichen Inhalt des Textes.
Ich habe vor vielen Jahren einmal mit Klaus Wennemann gedreht, der eine ganze Szene hindurch nur gebrüllt hat. Auf die Frage, warum er so brüllt, sagte er: „Ach, dieser Text ist so ein Mist. Das drücke ich mit Emotion zu, dann werden die Leute denken: Wird wohl wichtig sein.“ Ich kann als Schauspieler auch unabhängig vom Wortlaut mit dem Klang der Stimme sehr Unterschiedliches ausdrücken. Ich kann deftige Aussprüche wie „Du Arschloch!“ voller Aggression aussprechen, aber ich kann die gleichen Worte auch sehr still und dadurch verletzt klingen lassen. Ja, ich kann sogar ein „Ich liebe dich“ wütend sagen.
Das Gleiche gilt natürlich auch für Lieder, für gesungenen Text. Haben Sie sich schon einmal folgende Textpassagen angehört? „Was wir allein nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen.“
„Wir müssen geduldig sein, dann dauert es nicht mehr lang.“
„Alles kann besser werden. Bitte hör nicht auf zu träumen von einer besseren Welt.“
„Du bist die Zukunft, du bist ein Glück… Ich bin für dich da, du für mich. Seit deiner ersten Stunde glaube ich an dich.“ Alles ziemlich plakativ und platt, oder?
Sicherlich kennen Sie diese Zeile: „Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt, dann nur, damit du Liebe empfängst.“
Ja, es sind alles Textzeilen von Xavier Naidoo und Die Söhne Mannheims. Trotzdem würde niemand behaupten, dass die Söhne Mannheims banale Schlagermusik machen – weil sie eine ganz andere Musik unterlegen, als das bei Schlagern der Fall wäre.
Ich denke, dass manche sogenannten „coolen“ Songtexte mit einer anderen Musik genauso schnulzig daherkämen.
Wer den Film nicht gehört hat, hat den Film nicht gesehen!
Die Filmgeschichte begann mit dem Stummfilm – mit dem Pianisten, der jeweils dazu gespielt hat. Trotzdem war Film damals in erster Linie ein optisches Erlebnis. Der Rhythmus des Tons kam etwas später dazu – ein Meister dieses Bereichs ist der italienische Komponist und Filmmusiker Ennio Morricone, der 2007 einen Oscar für sein Lebenswerk gewonnen hat und 2016 dann einen zweiten Oscar für einen Film von Quentin Tarantino.
Morricone spielt normalerweise einem Regisseur pro Film fünf oder sechs Themen vor, aus denen der Regisseur sich ein Thema aussuchen kann. Bei einer Preisverleihung an Morricone hat der Regisseur Warren Beatty die Laudatio gehalten. Er sagte über den Komponisten: „Ennio Morricone hat sechs Themen für mich geschrieben. Ich durfte eines davon auswählen und jetzt muss ich die Filme für die fünf übrigen drehen.“
Die Zusammenarbeit zwischen Regisseur Steven Spielberg und Komponist John Williams ist legendär. Steven Spielberg hörte die Musik von Williams und glaubte, Williams müsse über achtzig Jahre alt sein, weil er so üppig komponiert wie die Filmkomponisten aus den 50er Jahren. Williams war damals keine Fünfzig. Williams seinerseits sprach Spielberg großes Talent zu, was den Filmrhythmus anbelangt: Sie erinnern sich vielleicht an die Szene in E.T., in welcher der Junge gemeinsam mit der Titelfigur auf dem Fahrrad abhebt und wir ihre Silhouette gegen den Mond sehen. So wie Spielberg das inszeniert hat, war es für Williams natürlich sehr leicht, Musik dazu zu komponieren.
Als Williams das Thema vom Weißen Hai erstmals Spielberg vorspielte, soll Spielberg gesagt haben: „Machst du Witze, das ist ein ernster Film.“ Aber viele Menschen haben seit diesem Film immer noch Angst, wenn sie unter sich die Tiefe des Meeres spüren. Der Film, und letztlich auch die Musik, haben zu einer weltweiten Hai-Panik geführt. Wenn irgendwo eine Hai-Attacke geschieht, so findet sich der Bericht auf jeder Titelseite. 2018 gab es weltweit 66 Hai-Attacken, vier davon waren tödlich. Es sterben weltweit jährlich viel mehr Menschen bei Begegnungen mit Nilpferden oder gar Kühen.
Jede Katze muss miauen
Eingangs habe ich behauptet, dass dem Schauen mehr Bedeutung zugemessen werde als dem Hören. Trotzdem bleibt oft die Filmmusik länger im Gedächtnis als die Bilder. Mein Bruder hat schon als Junge sehr auf die Musik geachtet. Während wir damals total erfasst waren von der Geschichte, hat er schon als 12- oder 13-jähriger Bub gesagt: „Hört ihr mal, was das für Musik ist!“ Heute ist er Filmregisseur in Holland.
Und wirklich: Wenn wir zum Beispiel vom Weißen Hai oder von Hitchcocks Psycho sprechen, erinnern sich die meisten erst an die Musik, primär an die ein oder zwei Noten des jeweiligen Hauptthemas. Ohne die legendäre Musik von Bernhard Herrmann wäre Psycho nie so gut geworden.
Gleiches gilt natürlich für Ennio Morricones Musik für Spiel mir das Lied vom Tod. Die Musik dazu war größtenteils schon vor den Dreharbeiten entstanden. Der Regisseur Sergio Leone hat dann bei den Dreharbeiten die Musik eingespielt, um die Schauspieler beim Drehen des Films komplett von der Stimmung der Musik einfangen zu lassen.
Wenn wir zu den Niederungen der Filmmusik gehen: Sie werden keinen Film finden, bei der eine Katze durch das Bild läuft, die nicht gleichzeitig miaut. Immer hinterlegt man solche Geräusche, damit nur ja deutlich ist, dass es sich um keine Ente handelt, sondern um eine Katze. Oder bei Kommissar Rex – was man diesem Hund für Geräusche hinterlegt hat, um ihn zu vermenschlichen!
Wir wollen hören – manche wollen nicht hören
Ich habe mir von HNO-Ärzten erzählen lassen, dass manche ältere Patienten sagen: „Wissen Sie, Herr Doktor, ich will das alles gar nicht hören“. Und die Frau sagt dann: „Der hört nur das, was er hören will.“
In dem Zusammenhang kommt mir dieser fürchterliche Spruch in den Sinn: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Aber ich fürchte, wer gar nichts hören kann, auch wenn er wollte, der wird auch nicht zum vollen Fühlen kommen. Hören komplettiert das ganze Universum dessen, was wir denken und verstehen können. Wenn ich höre, entstehen unzählige Bilder im Kopf. Wenn ich etwas sehe, sind die Bilder schon da.
Anm. d. Red.: Der Inhalt dieses Artikels stammt aus Serge Falcks großartiger Eröffnungsrede zur fachlichen Abendveranstaltung des HÖREN BEWEGT Events „Durch das Ohr zum Herzen – Über die Macht der Musik und die Bedeutung guten Hörens“, die im März im Wiener Haus der Musik stattgefunden hat.